Johannes Sachslehners neuestes Werk heißt "Wien. Biografie einer vielfältigen Stadt".

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Wien bei der Eröffnung der "Electrischen" am Schottentor am 29. Jänner 1902 ...

Fotos: Wien Museum

... und der Blick auf dieselbe Gegend heute.

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Johannes Sachslehner hat ein Buch über Wien geschrieben, das er eine "Biografie" der Stadt nennt. Der Historiker beschreibt darin Schlüsselmomente in der Geschichte der Stadt und nähert sich der sogenannten Wiener Seele.

STANDARD: Sie haben eine Geschichte Wiens verfasst. Wie sieht die "Wiener Seele" aus?

Sachslehner: Die Wiener Seele entwickelt sich, es gibt aber bestimmte Konstanten, die man herausarbeiten kann, weil diese in der Literatur gut dokumentiert sind. Was man den Wienerinnen und Wienern im 18. und 19. Jahrhundert immer vorgeworfen hat – dass sie nur den Genuss im Kopf haben –, das hat sich mittlerweile geändert, weil sich die Gesellschaft geändert hat. Dass sie als Raunzer gelten, hat auch einen Grund, ist aber nicht nur für Wien gültig. Dass sie süchtig nach Spektakeln sind und, wie Maria Theresia sagte, Spektakel sein müsse, war natürlich in Wien besonders ausgeprägt in einer Zeit, in der es keinen Fernseher gab und Unterhaltung über Spektakel passierte. Auch das goldene Wiener Herz verändert sich beziehungsweise ist ein Mythos, den man hinterfragen muss.

STANDARD: Welches dieser Stereotype trifft heute noch am ehesten zu?

Sachslehner: Ich glaube, man kann schon sagen, dass die Wienerinnen und Wiener nicht unbedingt große politische Kämpfer oder Revolutionäre sind. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel, aber insgesamt zielt man schon eher darauf ab, ein Leben zu führen, in dem man die schönen Seiten genießt.

STANDARD: Welche Wien-Zuschreibungen empfinden Sie als unpassend?

Sachslehner: Ich wollte vermeiden, dass man Wien zu einseitig sieht. Was mich zum Beispiel stört: Man landet mit dem Flugzeug in Schwechat, und dann kommt die Walzermusik. Das ist ein Klischee. Es wird heute in Wien kaum irgendwo der Walzer gespielt – nichts gegen den Walzer, das ist schöne Musik, und Johann Strauß hat das Image Wiens international geprägt. Aber diese Reduktion auf die Musikstadt oder auch den Kuss von Klimt, das ist mir zuwider. Mein Ziel wäre es, das Bild etwas differenzierter zu sehen und gängige Mythen zu dekonstruieren.

STANDARD: Eines davon ist, dass Wien in seiner Vergangenheit festhängt. Das sehen Sie anders. Warum?

Sachslehner: Man kommt nach Wien und bewegt sich zwischen Schönbrunn und Stephansdom, die Wiener Ringstraße entlang. Aber der Alltag in Wien hat mit der Vergangenheit wenig zu tun. Der Doppeladler ist zwar überall präsent, aber die meisten wissen gar nicht, was es mit dem auf sich hat. Hier sehe ich eine gewisse Janusköpfigkeit: Die Vergangenheit ist zwar präsent, aber die Gesellschaft ist sich dessen nicht mehr so bewusst. Dieses Wissen um die Vergangenheit wiederum hilft manchmal auch, Dinge besser zu sehen und sie analysieren zu können.

STANDARD: Gerade jetzt in der Pandemie, in der unser Umgang mit der Wissenschaft im Zentrum steht, heißt es immer wieder, dass das Land anders aussehen würde, hätte man seine intellektuelle, vorwiegend jüdische Elite nicht ermordet oder vertrieben.

Sachslehner: Ich bin auch der Meinung, dass Österreich diesen Aderlass, der bereits in der Zwischenkriegszeit begonnen hat, nicht wirklich kompensieren konnte. Schon vor den Nazis hat diese Migration stattgefunden. Das Fehlen dieses großbürgerlichen, intellektuellen, liberalen Denkens, diese Geisteshaltung fehlt heute an allen Ecken und Enden. Nach 1945 wurde vieles verschwiegen, die Leute wurden nicht zurückgeholt oder wollten auch nicht zurück. Das blieb in vielen wissenschaftlichen Bereichen spürbar. Vor allem an der Uni Wien hat sich eine gewisse Kontinuität des antisemitischen Denkens gezeigt, und auch in der Politik.

STANDARD: Sie sprechen in Ihrem Buch auch von verdrängten und verborgenen Gesichtern Wiens.

Sachslehner: Geschichte wird ja immer aus Sicht der Überlebenden und Mächtigen geschrieben. So war die Geschichte Wiens lange Zeit die Geschichte der habsburgischen Residenz. Die Sozialdemokraten haben die Geschichte des "Roten Wien" geprägt. Die Nationalsozialisten haben Wien als Bollwerk an der Grenze gesehen gegen Feinde aus Osten und Südosten. Wien wurde immer wieder instrumentalisiert von den jeweiligen Eliten und Herrschenden.

STANDARD: Sie forschen seit Jahrzehnten zur Wiener Stadtgeschichte. Hat Sie bei Ihrer jüngsten Recherche etwas überrascht?

Sachslehner: Überraschungen gab es immer wieder. Im Kapitel "Kruzifixzerbrecherinnen" behandle ich, dass es Anfang des 18. Jahrhunderts in Wien eine Häufung von Hinrichtungen junger Frauen gab, die Kruzifixe zerbrochen oder Hostien geschändet haben sollen. Das waren junge Menschen, die keine Eltern hatten und ziellos herumgestreunert sind. Großteils wurde diese "Gotteslästerung" im Zucht- und Arbeitshaus in der Leopoldstadt begangen. Die jungen Menschen starben also lieber, als den dortigen Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein. Das hat mit Walzerseligkeit und goldenem Wiener Herz wenig zu tun.

STANDARD: In den Kapiteln über die neuere Geschichte geht es auch darum, wie Wien allmählich zur Großstadt wurde. Wie steht es um das "neurotische Verhältnis" (Siegfried Mattl) der Wiener Bevölkerung zu Hochhäusern? Wien wächst ja immer mehr in die Höhe. Hat sich dieses Verhältnis inzwischen entspannt?

Sachslehner: Dazu gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen. Aber die Tendenz ist schon da, also dass man sich damit abgefunden hat, dass Wien eben auch eine Weltstadt ist. Und wenn es die sein will, dann muss es Lösungen geben. Man kann ja nicht nur in die Breite gehen und Fläche beliebig vergrößern. Der Hochhausausbau ist unausweichlich. Wichtig ist natürlich, den Charakter Wiens nicht zu zerstören. Ich habe natürlich zu einzelnen Bauten auch meine Meinung, aber im Großen und Ganzen finde ich schon, dass Wien sein Gesicht relativ erfolgreich gewahrt hat. (Anna Giulia Fink, 25.11.2021)