Bild nicht mehr verfügbar.

Edgar Selge wuchs auf dem Gelände eines Gefängnisses auf.

Susannah Vergau / Picturedesk

Er wächst als Sohn des Gefängnisdirektors auf dem Areal einer Jugendstrafanstalt auf, erlebt den frühen Tod zweier Brüder, wurde ein berühmter Schauspieler und hat jetzt seine Jugendjahre in Literatur gepackt. Das klingt nach Joachim Meyerhoff und dessen autobiografischer Bestsellerserie Alle Toten fliegen hoch, ist aber noch besser: Edgar Selge, Schauspieler des Jahres 2016 und bekannt aus Fernsehkrimis wie Polizeiruf oder Tatort, legt mit dem Buch Hast du uns endlich gefunden ein sensationelles Debüt vor.

Der soeben bei Rowohlt erschienene Band ist nicht als Roman kategorisiert, weil darin trotz Fiktionalisierung nichts erfunden ist. Und vielleicht auch, um dem Schwiegervater Martin Walser nicht ins Gehege zu kommen. Wie auch immer. Die besten Geschichten bietet offenbar das Leben selbst; zumindest dann, wenn man so schreiben kann wie Selge. Der Autor – und darin liegt die außerordentlich geglückte, frische Sprech- und Erzählweise dieser Literatur – schreibt hier in der Rolle von sich als Zwölfjährigem.

Schauspielerische Tat

Die jugendpowerliche Sichtweise rückt einem ganz nahe, etwa dann, wenn er dem Geklacker von 80 Paar genagelten Schuhen der Gefängnisinsassen zuhört, wie diese zum regelmäßigen Hauskonzert des musikverliebten Vaters und Direktors über den Flur antanzen (müssen). Wenn er mit dem aus der Klassenkassa veruntreuten Geld nächtens heimlich ins Kino verschwindet und irgendwann erwischt wird. Wenn er die Schläge des Vaters beim Lateinunterricht mit sachbezogen-nüchterner Selbstbefragung entgegennimmt. Oder wenn er mit seiner rücksichtslosen Neugier und gelegentlichen Berechnung den Esstischfrieden aus den Angeln hebt.

Selges Schreiben gleicht in seiner Einfühlung in die Rolle des eigenen Teenager-Ichs auch einer schauspielerischen Tat. Selge spielt diese Rolle schreibend durch. Dabei fördert die unbestechliche Kindperspektive einen chuzpehaften Tonfall zutage, der einen aufweckt: Verwegenheit, Naivität, Raffinesse, auch Ratlosigkeit dieses jugendlichen Daseins in einer ostwestfälischen Kleinstadt.

Mutti kommt in Fahrt

Die Erinnerung sprengt sich frei vom Wissensballast eines heute 73-Jährigen und klingt dann, wenn die Eltern samt ihrer antisemitischen Prägung von den Söhnen in die Mangel genommen werden, zum Beispiel so: "Die beiden Alten sind sich jetzt auch nicht mehr so bombensicher, ob ihr Urteil über die Juden und das Jüdische stimmt." Und wenn die Mutter die Vaterlandsliebe der im Krieg getöteten männlichen Verwandtschaft verherrlicht, dann quittiert Klein-Edgar das mit "Jetzt kommt Mutti in Fahrt".

Schwerwiegendes wie die nationalsozialistische Verblendung der kunstsinnigen und später geläuterten Eltern, wie die Schläge des Vaters oder dessen pädophile Übergriffe – es bleibt in der Weltwahrnehmung des Zwölfjährigen alltäglich und kommt in seiner Nüchternheit umso wuchtiger daher.

Lebendigkeit der frühen Jahre

Edgar Selge verleugnet das Wissen des heute gealterten Menschen aber nicht, er schiebt es nur auf eine weitere, gegenwärtige Erzählebene des Buchs, die der erstarrten Monate der aktuellen Pandemie. Da tritt also plötzlich der alte Selge ins Bild, der sich fühlt "wie ein erkalteter Planet, der von früheren Naturereignissen träumt." Und der sogleich wieder abtaucht in die Lebendigkeit der früheren Jahre und uns mitnimmt.

Hast du uns endlich gefunden würde als Roman einer deutschen Nachkriegsjugend durchgehen oder als Familienstudie eines Bildungsbürgertums mit Generationenbruch; oder als ein Buch über die Wiedererlangung des eigenen Kindheitsgefühls, wie es Annie Ernaux oder Didier Eribon geschrieben haben. Dahingehend ist Edgar Selge ein Hit gelungen: im Auflebenlassen einer unbestechlichen Kindersicht. (Margarete Affenzeller, 25.11.2021)