Gerettete Flüchtlinge und Migranten werden in Sicherheit gebracht. Trotz des tödlichen Bootsunglücks wagten wieder hunderte Menschen die Überfahrt.

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Die schlimmste Flüchtlingstragödie zwischen Frankreich und Großbritannien hat am Mittwoch 27 Menschen das Leben gekostet. Nach dem Kentern des Gummibootes sind sie in dem eisigen Meerwasser ertrunken. Zu den Opfern gehören sieben Frauen und drei Kinder. Die Bestürzung beidseits des Ärmelkanals ist groß.

Seit Jahresbeginn haben laut offiziellen Angaben 26.000 Menschen die Überfahrt gewagt, gegenüber 8.500 im Vorjahr. Auch am Donnerstag machten sich wieder hunderte von Migranten auf den gefährlichen Weg. Die Schlauchboote werden von organisierten Schlepperbanden bereitgestellt; der Preis für einen Platz in den meist total überfüllten Vehikeln liegt zwischen 3.000 und 7.000 Euro. Mehrheitlich handelt es sich um Männer zwischen 18 und 39 Jahren, so die britische Grenzschutzbehörde Border Force.

Wut auf die Schlepper

Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin erklärte, er sei "voller Wut" auf die kriminellen Banden, die schwangere Frauen, Kinder und Babys beförderten. "Für einige Tausend Euro beutet man diese Menschen aus, indem man ihnen das Eldorado in England verspricht." Nötig sei eine grenzübergreifende Kooperation "wie gegen Terroristen", meinte der Minister an die Adresse von Belgien, Deutschland und Großbritannien.

Delphine Rouilleault vom Hilfswerk Terre d’asile gab am Donnerstag indes zu bedenken, dass das jüngste Drama "nicht auf die Schlepperfrage reduziert" werden könne. "Schuld ist auch die polizeiliche Schließung der Routen, was den Preis für das Übersetzen erhöht und die Schlepper bereichert", meinte sie. "Die einzige Alternative besteht darin, einen legalen Asylweg zu öffnen."

Die Frage ist allerdings, wo. Der britische Premier Boris Johnson will die Gesuche nicht erst auf britischem Boden prüfen lassen. Die Franzosen sind aber personell überfordert und auch nicht willens, diese Aufgabe schon auf ihrem Staatsgebiet zu erledigen. Wenige Tage vor dem Bootsdrama hatte die Regierung in Paris trotzdem bekanntgegeben, sie verstärke die Kontrolle des 130 Kilometer langen Küstenstreifens bei Calais durch 100 Schiffe und geländegängige Fahrzeuge.

Johnson schlägt fünf Maßnahmen vor

"Frankreich lässt nicht zu, dass der Ärmelkanal ein Friedhof wird", erklärte Präsident Emmanuel Macron. Johnson warf den Franzosen einmal mehr vor, "nicht genug" zur Lösung des Problems zu unternehmen. Macron forderte ihn nach einem Telefongespräch öffentlich auf, "besser zu kooperieren" und die dramatische Lage "nicht zu instrumentalisieren". Details besprachen später die Innenminister der beiden Länder in einer Videoschaltung.

Am Donnerstagabend sagte Johnson, er habe Macron fünf Maßnahmen vorgeschlagen. So sollten gemeinsame Patrouillen verhindern, dass weitere Flüchtlings-Boote die französische Küste mit Ziel Großbritannien verlassen. Zur Überwachung sollten zudem Radar und Sensoren eingesetzt werden. Darüber hinaus müsse es ein Rückführungsabkommen seines Landes mit Frankreich und eines mit der Europäischen Union geben.

Innenpolitisch versetzen die Ereignisse im Ärmelkanal die konservative Brexit-Regierung seit Wochen in Panik. Im EU-Referendums-Kampf spielte Immigration eine herausragende Rolle; Vorkämpfer wie Johnson und die jetzige Innenministerin Priti Patel beschuldigten den damaligen Tory-Premier David Cameron, dieser habe die Kontrolle über die Grenzen verloren. Genau diesem Vorwurf sehen sich die Verantwortlichen jetzt selbst ausgesetzt. Dabei hat die Netto-Immigration in das Land mit 66 Millionen Einwohnern im vergangenen Jahr einen Tiefststand von 34.000 erreicht. (Stefan Brändle, Sebastian Borger, 25.11.2021)