Warum soll man einen Roman lesen, der mit einem nackten, einem Eisloch entsteigenden weißhaarigen Riesen beginnt, von dem es in hölzerner Sprache heißt, er sehe aus wie ein "old, strong Christ"? Aber dann beginnt der bereits zu Lebzeiten zur Legende gewordene "Hawk" – eigentlich eine Verballhornung seines Namens Hakan – zu erzählen, und seine Geschichte entfaltet eine Sogwirkung, der man sich nicht mehr entziehen kann.

Hernán Díaz, "In der Ferne". 24,90 Euro / 304 Seiten. Hanser, Berlin 2021
Cover: Hanser Verlag

Nur wenige Seiten sind der dramatischen Wendung im Leben des jungen Schweden gewidmet, die seine lebenslange amerikanische Irrfahrt begründen wird: Aus bettelarmen Verhältnissen Mitte des 19. Jahrhunderts von den Eltern aus Schweden nach "Nujark", New York, geschickt, verliert er seinen älteren Bruder Linus schon im Hafen von Portsmouth und landet auf einem Schiff nach San Francisco. Von dort aus will er den Kontinent überqueren, um Linus zu finden.

Schmerzlich realistisch

Der Roman In the Distance von Hernán Díaz wurde 2017 veröffentlicht, war Pulitzerpreis-Finalist und kam 2021 in deutscher Übersetzung heraus. Die englische Taschenbuchausgabe hat ein gelungenes, programmatisches Buchcover: eine durch eine Camera obscura gespiegelte Landschaft, auch der Autorenname steht auf den Kopf.

Die Welt, die uns Diaz beschreibt, ist schmerzlich realistisch und distanziert surreal zugleich, wie das Personal, das sie bevölkert, von den sich verlierenden Goldgräbern über die zahnlose Madame, die Hakan sexuell versklavt, bis zum pseudowissenschaftlichen Spintisierer.

Die einzige Konstante für Hakan ist die absolute Fremdheit. Dass er sich einem Treck anschließt, endet in einer Katastrophe: Er bringt als Indianer posierende Banditen einer Brüderschaft, die die Siedler überfallen – und die erste Frau, auf die er je ein Auge geworfen hat, vergewaltigen und töten –, der Reihe nach um und muss sich danach jahrelang in der Wildnis verstecken, um ihrer Rache zu entgehen.

In der Ferne ist ein Western sui generis, die Parallele zu Cormac McCarthys Die Abendröte im Westen (Blood Meridian) liegt auf der Hand. Es ist ein Entwicklungsroman, in dem der "tumbe Tor" zwar nicht zum edlen Ritter wird, aber immerhin überlebt. (Gudrun Harrer, ALBUM, 2.12.2021)