Am ersten Prozesstag, dem 30. April, erschien der angeklagte Martin Rutter noch nicht im Verhandlungssaal, da er sich weigerte, eine Maske anzulegen. Nun beugte er sich.

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Wien – Rebellen sind halt auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Während sich Ernesto "Che" Guevara auf Kuba von seinem Asthma nicht im Kampf gegen die Batista-Diktatur abhalten ließ, ist der 38-jährige Martin Rutter vor Richterin Juliane Neumaier empfindlicher. Am letzten Tag seines Prozesses wegen versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt bei einer Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstration am 31. Jänner in Wien schafft er es zunächst immer nur wenige Minuten, seine FFP2-Maske mit der Aufschrift "Corona-Diktatur" vor Mund und Nase zu behalten.

Dass er sie überhaupt trägt, ist dem diplomatischen Geschick der besonnenen Richterin zu verdanken. Als der Angeklagte den Saal betritt, liegen Mund und Nase nämlich frei. Rutters Verteidiger Michael Drexler legt einen negativen PCR-Test und ein ärztliches Attest vor. "Der Test ist vom 1. November, jetzt haben wir den 26.", weist Neumaier auf das geringfügig überschrittene Gültigkeitsdatum hin. "Und bezüglich des Attests haben wir ein Gutachten eingeholt, das kein Hindernis für das Tragen einer Maske festgestellt hat." – "Meinen Körper kenne ich besser und nicht ein Arzt, der mich eine halbe Stunde anschaut!", entgegnet Rutter, der vor möglichen Schwindelanfällen warnt. "Ich muss Sie dennoch bitten, eine Maske zu tragen. Schauen wir einmal, wir können dann ja auch Pausen machen, wenn es nicht geht", muntert die Richterin ihn erfolgreich auf.

Korrekt adjustiert kann der Angeklagte also dem ersten Zeugen lauschen – jenem Bezirksinspektor, der bei der nicht angezeigten Kundgebung am 31. Jänner Rutters Identität feststellen wollte. Laut der Staatsanwältin habe der Maßnahmengegner das mit Gewalt verhindert und so einen Widerstand begangen.

Angeklagter war Polizisten unbekannt

"Es gab eine Demonstration mit vielen Teilnehmern, und Sie waren auch dabei", beginnt die Richterin die Befragung des 31-jährigen Zeugen. "Ich war auf der Seite der Polizei", präzisiert dieser. Und erzählt dann, es habe am fraglichen Tag mehrere Kundgebungen gegeben, die Stimmung sei je nach Ort unterschiedlich gewesen. Er habe einen Zug begleitet und von einem Vorgesetzten die Weisung bekommen, die Identität eines Mannes festzustellen, der Verwaltungsübertretungen gesetzt hatte. "Haben Sie den Herrn Rutter vorher gekannt?", will Neumaier wissen. "Nein, der Angeklagte war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt", entgegnet der Zeuge, er habe nur eine Personenbeschreibung erhalten.

Er und vier Kolleginnen und Kollegen aus der ersten Gruppe des Zugs Ulan 320 hätten sich auf den Weg gemacht, um den Auftrag zu erfüllen, der Zeuge war der Vorderste in der Reihe. Seiner Darstellung nach erreichte er Rutter, sagte "Halt, Polizei!" und ergriff ihn am Arm. "Dann hat er sich losgerissen und mich weggestoßen und ist wieder in der Menge untergetaucht", schildert der Polizist die missglückte Amtshandlung. "Wie fest hat er Sie weggestoßen? Sind Sie getaumelt?", interessiert die Richterin. Der Zeuge hat keine klare Erinnerung mehr. Aber: "Es ist mein Job, Leute festzuhalten – unter anderem. Es ist nicht so, wie wenn Sie ein fünfjähriges Kind festhält", hält er fest.

"Dann sind schon alle auf uns losgegangen"

Unmittelbar danach seien andere Demonstranten aggressiv geworden, es habe einige Zeit gedauert, bis die Ordnung wiederhergestellt war. Den Angeklagten habe er erst mehrere Minuten später wieder gesehen, da sei er bereits festgenommen gewesen und auf dem Weg zum Arrestantenwagen. Eine hinter diesem Zeugen operierende Polizistin hat noch weniger gesehen und kann nur schildern, dass Rutter sich losgerissen habe. "Und dann sind schon alle auf uns losgegangen", erinnert sie sich.

Nachdem Neumaier den Antrag der Verteidigung auf weitere Zeugen abgelehnt hat und das Beweisverfahren eigentlich bereits schließen will, wartet Drexler noch mit einer Überraschung auf: Sein Mandant wolle aussagen und auch ein Video vorlegen, kündigt er an.

Also nimmt Rutter auf dem Anklagestuhl Platz und wird nach seiner Sicht der Dinge gefragt. "Aufgrund einer illegal untersagten Demonstration – wie das Landesverwaltungsgericht mittlerweile festgestellt hat – haben sich mehrere Demonstrationszüge gebildet, ich war bei einem dabei", beginnt der Angeklagte seine Schilderung. "Es war etwas chaotisch, aber es wurde niemand gefährdet. Als es dunkel wurde, habe ich etwa auf Höhe des Westbahnhofs – genauer kann ich es nicht sagen, ich bin Kärntner – eine größere Gruppe Polizisten gesehen, die mit Vehemenz und Gewalt eingegriffen haben."

Weisung, "mich aus dem Spiel zu nehmen"

Demonstrantinnen und Demonstranten seien zu Sturz gekommen, er habe gesehen, wie eine Gruppe Uniformierter in seine Richtung gekommen seien. "Die hatten wahrscheinlich die vielleicht unausgesprochene Weisung, mich aus dem Spiel zu nehmen. Das ist meine Interpretation", zeigt Rutter sich überzeugt. "Ich habe befürchtet, dass die Polizei auf mich losgeht und mich vielleicht tätlich attackiert", begründet er, warum er ein paar Schritte weiterging. "Dann bin ich schon auf dem Boden gelegen."

Jemand habe ihn von hinten niedergerissen, in dem Tumult habe er nichts von "Polizei" oder "Ausweiskontrolle" gehört, beteuert er. "Ich hatte bereits mehrere Identitätsfeststellungen und auch Festnahmen und habe mich nie gewehrt. Das würde der Sache, für die ich seit 20 Monaten kämpfe, schaden", verteidigt der Angeklagte sich.

Er legt der Richterin auch einen USB-Stick vor, auf dem sich der Zusammenschnitt von vier Videos seiner Festnahme befinden, aus denen seine Unschuld hervorgehe, wie Rutter ankündigt. "Ich brauche das Video nicht mehr", weist Neumaier das Beweisstück ruhig zurück.

Videoveröffentlichung angekündigt

Eine Entscheidung, die der Angeklagte in seinem ausführlichen Schlusswort, bei dem er interessanterweise nicht mehr unter der Maske leidet, anprangert. "In Zeiten, wo hinterfragt wird, ob die Regierung legitimiert ist, sollten objektive Beweise zugelassen werden. Ich werde die Videos auf jeden Fall veröffentlichen, damit sich die Öffentlichkeit ein Bild machen kann!", kündigt er an. Als er offenbar zu einer flammenden Rede wie weiland Fidel Castro Ruz 1953 in seinem Prozess nach dem Sturm auf die Moncada-Kaserne ansetzen will, bremst ihn die Richterin ein. Es gehe heute nur um seinen Fall, stellt sie klar.

Um Rutter anschließend freizusprechen. "Ich konnte mir anhand der Zeugenaussagen ein Bild der Situation machen, und wir haben auch ein Video gesehen, auf dem man außer einem Tumult nicht recht viel sieht", begründet Neumaier ihre Entscheidung. Da der Polizist, der die Identität des Angeklagten hätte feststellen sollen, zur Intensität des Stoßes nichts sagen konnte, geht sie davon aus, dass keine Gewalt im Spiel gewesen sei, was für die Erfüllung des angeklagten Deliktes aber entscheidend sei. Die Staatsanwältin gibt keine Erklärung ab, der Freispruch ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 26.11.2021)