Eine Frau sitzt mit ihren zwei Kindern am Küchentisch. Sie hält ein Blatt Papier hoch und fordert in dem in sozialen Medien vielfach geteilten Video ihre Kinder auf, fiese Sachen zu dem Blatt Papier zu sagen. "Du bist hässlich, deshalb liebt dich deine Mama nicht."

Bei jedem dieser Sätze zerknüllt die Frau ein Stück des Papiers. "Du stinkst wie ein Hundefurz", "Du hast keine Freundinnen" – das geht so lange, bis das Papier völlig zerknüllt ist und die Mutter die Kinder auffordert, sich beim Papier zu entschuldigen.

Mieko Kawakami, "Heaven". 22,95 Euro / 192 Seiten. Dumont-Buchverlag, Köln 2021
Cover: Dumont-Verlag

Sobald sie pflichtschuldig ihr "Sorry!" losgeworden sind, versucht die Frau, das Papier wieder zu glätten, und fragt die beiden Mädchen, ob jetzt wieder alles in Ordnung sei mit dem Papier, das jetzt voller Eselsohren und Knitterspuren ist. Nein, sind sich die beiden einig. "Und deshalb mobbt ihr nicht", entgegnet ihre Mama streng.

Keine moralisierenden Antworten

Wer Mieko Kawakamis Roman Heaven liest, will die Klassenkolleginnen- und kollegen des namenlosen Ich-Erzählers vor dieses Video zwingen. Die im japanischen Osaka geborene Bestsellerautorin (Brüste und Eier) widmet sich in ihrem aktuellen Buch dem Thema Mobbing, was aber angesichts dessen, was der 14-jährige Schüler und seine Klassenkameradin Kojima erleben müssen, fast verniedlichend klingt. Kawakami erzählt von roher Gewalt, die bei den Jugendlichen lebenslänglich Spuren hinterlassen wird.

Die Autorin geht auch in diesem Roman gewohnt originell mit einem bekannten gesellschaftlichen Problem um: Sie lotet Fragen aus, ohne moralisierende Antworten zu liefern – und erzählt uns wahrscheinlich gerade deshalb enorm viel über Hass, Liebe und Freundschaft.

Eine Botschaft hat Kawakami allerdings an Betroffene: Es liegt nicht an euch. Egal ob jemand schielt oder stinkt – wie Kojima, die sich aus Liebe und Solidarität zu ihrem völlig mittellosen Vater, von dem sich ihre Mutter hat scheiden lassen, nicht mehr wäscht. All das sind Ausreden. Es ist eine Entscheidung, was und wer als "schwach" gilt, als "Opfer" auserkoren wird.

Dieser bedrohliche Gedanke, dass man auch selbst in diese willkürliche Kategorie fallen könnte – vielleicht liegt genau in diesem Gedanken zumindest eine kleine Chance. (Beate Hausbichler, 27.11.2021)