Sara hat sieben Kinder, das achte ist unterwegs. Die Familie lebe vom Einkommen des Mannes, sagt sie.

Foto: Scherndl

Im Wohnzimmer von Sara* und ihrer Familie steht nur wenig Mobiliar: Mehrere gemütliche Teppiche sind übereinander auf dem Boden geschichtet, auch über den Sofas liegen weiche, buntgemusterte Decken. An der einen Ecke steht noch eine Wiege, an der anderen ein Holzofen, das war's. Es ist warm, der Geruch des Rauchs sticht in der Nase. Auf einem Sofa sitzen zwei Frauen, Sara, hochschwanger, und ihre Tochter Nina, dazu zwei kleine Burschen: ein Sohn und ein Enkel von Sara. "Was wirst du tun, wenn ich Probleme mit meinem Mann habe?", schreit die jüngere Frau in Richtung der älteren. "Wird dir das gefallen?"

Das Haus, zu dem dieses Wohnzimmer gehört, ist in Prizren, der zweitgrößten Stadt des Kosovo. Das jüngste Land Europas ist gerade dabei, sich zu emanzipieren, und doch haben manche hier nicht das Nötigste, um zu leben. Vor allem, wenn sie einer Minderheit angehören – 9.000 Roma, 13.000 Aschkali und 14.000 Menschen aus der ägyptischen Minderheit leben momentan laut offiziellen Angaben in dem 1,8-Millionen-Einwohner-Staat.

In einem Staat, in dem das Sozialsystem marode und die Armut groß ist, einem Staat, der immer noch um die Anerkennung anderer Staaten buhlt, ist es für Gruppen, die dazu noch systematischer Diskriminierung ausgesetzt sind, besonders schwierig. Auch wenn die Regierung um Gleichstellung bemüht ist, finden marginalisierte Gruppen schwieriger Jobs, die Kinder schließen die Schule seltener ab.

Eine von dreien

Und: In vielen Fällen heiraten sie früher. Laut einem Papier der kosovarischen Statistikagentur gaben unter den 20- bis 24-Jährigen im Kosovo eine von 25 Frauen und einer von 50 Männern an, schon vor dem 18. Lebensjahr verheiratet gewesen zu sein. Unter den Roma, Aschkali und Ägyptern ist dieser Anteil viel höher: Da betrifft das eine von drei Frauen und einen von zehn Männern.

Und es betrifft Nina, die im Wohnzimmer am Sofa sitzt, ihren Neffen am Arm. Die 16-Jährige, so der Plan der Eltern, soll bald einen Mann in Deutschland heiraten. Nina sagt, sie spreche kein Deutsch – und der Mann kein Albanisch. Eine Ehe sei besser für sie, sagt Mutter Sara. Kinderehen, so heißt es in dem Papier der kosovarischen Statistikagentur, würden häufig geschlossen, um die Familien der Frauen finanziell zu entlasten. Sie seien aber auch eine Verletzung der Menschenrechte, führten zu sozialer Isolation und zu schlechteren Ausbildungschancen, steht da weiter.

Auf NGOs angewiesen

Der offizielle Kosovo weiß allerdings nicht von allen derartigen Fällen. Nach Angaben von Kumrije Bytyqi, der Direktorin des Center for Social Work, einer kommunalen Einrichtung in Prizren, schlugen heuer nur zwei Fälle von Kinderehen bei ihr auf. "Aber es gibt Organisationen, die sich dessen angenommen haben", sagt sie, "vielleicht gibt es Fälle, die nicht bis zu uns kommen." Generell setzt der Kosovo, der nach der Unterdrückung der Albaner, einem Krieg, der 1999 durch die Nato beendet wurde und 2008 seine Unabhängigkeit deklarierte, stark auf Hilfsorganisationen, wenn es um das Wohl seiner Bevölkerung geht.

Recht neu in der Gegend ist als NGO die Concordia Sozialprojekte, eine internationale Organisation, die auch in Bulgarien, Rumänien und der Republik Moldau tätig ist. Sie hat einen Fokus auf benachteiligte Kinder und Jugendliche – auch hier in Prizren. Da betreibt sie seit einigen Monaten das Tranzit-Center, in dem Kinder und Jugendliche aus der Nachbarschaft den Tag verbringen können, zu essen bekommen, Musik und Hausübungen machen. Die Concordia übernimmt dabei Aufgaben des Staates, indem sie bei der Versorgung der Familien hilft, sie übernimmt Aufgaben der Schulen, indem sie bei der Bildung unter die Arme greift, und sie übernimmt Aufgaben der Eltern. "Wenn ein Kind nicht in der Schule ist, wollen wir, dass die Schulen uns anrufen", sagt Bernhard Drumel, Vorstandsmitglied der Concordia. All das mache man ohne einen Cent Förderung vom Kosovo.

"Eine finstere Zeit"

Im Tranzit-Center arbeitet Bardhyl, er betreut dort die Kinder und Jugendlichen und ist auch mit den Familien in Kontakt. So auch in Ninas Fall, sie kommt hin und wieder ins Zentrum. Erst gestern, so sagt Bardhyl, erzählte ihm Nina von den Heiratsplänen, die ihre Eltern für sie gemacht hätten. Und dass sie dagegen sei. Bei manchen Kindern, sagt Bardhyl, "ist es sehr wichtig für sie, dass sie im Tranzit-Center sein können. Sobald sie heimgehen, haben sie ihre täglichen Probleme. Hier haben sie Musik, Essen, Ausbildung."

Zurück im Haus von Ninas Familie, kommen zwei ihrer Schwestern bei der Tür herein, dabei ein Sackerl voll Softdrinks, Knabbereien und Puddingbecher. Sie kommen gerade vom Metallsammeln, 14 Euro hätten sie eingenommen, davon waren sie einkaufen. Als das Gespräch wieder zurück auf das Thema Ehe fällt, erzählt die ältere von ihnen, die 17-Jährige Anita, dass auch sie schon einmal verheiratet gewesen sei. "Es war eine finstere Zeit", sagt sie. Ihr Mann habe sie geschlagen, dessen Vater sei ihr zu nahe gekommen. Sie schaffte es dort weg, doch eines ihrer Kinder musste sie bei der Familie des Mannes zurücklassen.

Kinderschutzgesetz und irgendwann eine Krankenversicherung

Wie wird es weitergehen mit dem Kosovo und mit den jungen Menschen, die dort leben? 2019 wurde ein Kinderschutzgesetz beschlossen. Unicef schreibt über das neue Gesetz, es sei eine "bedeutende Errungenschaft für den Schutz der Kinderrechte", denn es lege die Rechtsgrundlage für den Schutz vor allen Formen physischer und psychischer Gewalt. Man sei momentan dabei, dieses Gesetz zu implementieren, sagt Habit Hajrendi – er leitet das Office for Good Governance im Büro des Premierministers und ist seit 20 Jahren für Menschenrechtsfragen im Kosovo zuständig.

Auch was Kinderehen angeht, wolle man Änderungen umsetzen, sagt er. "Wir wollen die Aufmerksamkeit erhöhen – bei Eltern, Lehrern und Kindern", sagt er. Und was die finanzielle Situation der Kosovaren und Kosovarinnen betrifft, da hoffe er, dass man in fünf bis zehn Jahren eine Krankenversicherung einführen könne.

Ein paar Tage nachdem Nina ihre Mutter angeschrien und nachdem Anita von ihren Erfahrungen in ihrer Ehe erzählt hatte, war der NGO-Mitarbeiter Bardhyl noch einmal bei der Familie, erzählt er später am Telefon. Stundenlang habe er mit ihnen geredet. Und die Mutter dazu überredet, dass Nina nicht nach Deutschland gehen muss. "Zumindest momentan", sagt er. (Gabriele Scherndl, 29.11.2021)