Sich gemütlich eine Gesichtsmaske aufzulegen kann eine ernstzunehmende Selfcare-Praxis sein – aber nicht nur.

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"Oh mein Gott, seht ihr das, ich habe Gänsehaut!" Hyram muss eine Pause einlegen. Gekonnt setzt der Youtuber auf Dramatik: Die Skincare-Routine von Serienstar Lily Collins scheint den jungen US-Amerikaner regelrecht zu entsetzen. Großzügig verteilt Collins im "Vogue"-Video Pfefferminzöl auf ihrem Gesicht, ein absolutes No-Go der informierten Hautpflege, erklärt Hyram. Der sympathische Videoblogger ist weder ausgebildeter Kosmetiker noch Dermatologe, seinem Kanal "Skin care by Hyram" folgen dennoch rund 4,6 Millionen Menschen. Erst kürzlich brachte er unter dem Label Selfless eine eigene Pflegelinie auf den Markt, deren nachhaltige Produkte nicht weniger als die Welt verändern sollen.

Hyram

"Hautpflege und Make-up sind zwei dominante Trends auf Social Media", sagt die Kulturhistorikerin und Medienwissenschafterin Annekathrin Kohout. Besonders Alltagsroutinen sind beliebte Formate: Influencer*innen geben Einblick ins eigene Badezimmer, gut ausgeleuchtet wird geschmiert, getupft und verblendet. Die Pandemie hat speziell der Haut- und Haarpflege einen Aufschwung beschert. Während sich kaum Anlässe boten, abends mit dramatisch geschminkten Augen zu glänzen, widmeten sich mehr Menschen einer ausführlichen Pflegeroutine.

Das belegen auch die Zahlen der Kosmetik- und Körperpflegeindustrie. Für Hautpflege gaben Österreicher*innen 2020 rund 75 Euro und damit sechs Euro mehr aus als noch im Jahr davor, bei dekorativer Kosmetik und Deos verzeichnete die Branche hingegen Rückgänge. In den USA identifizierte das Marktforschungsunternehmen Nielsen angesichts geschlossener Kosmetiksalons einen Do-it-yourself-Trend, der 2020 unter anderem für massive Zuwächse bei Gesichtspeelings und Haarpflegeprodukten sorgte.

Ein Baukasten voll Hautpflege

Auch Magdalena Berger hat ihre Leidenschaft für Hautpflege während der Pandemie entdeckt. "Ich mache das seit einem Jahr, es ist tatsächlich ein Pandemie-Hobby geworden, weil ich so viel zu Hause bin", sagt die Lehrerin, die auf Instagram den Account /communistmakeup betreibt. Berger experimentierte mit verschiedenen Wirkstoffen, um Probleme wie Hauttrockenheit zu bekämpfen. "Ich gebe schon mehr Geld dafür aus als früher, aber es hält sich in Grenzen, die Produkte sind ergiebig", erzählt Berger. Inspiration holt sich die Lehrerin auf Instagram, etwa bei xskincare. Hinter dem Account mit über 660.000 Follower*innen steckt der deutsche Biologiestudent Leon, der über Inhaltsstoffe und leere Marketingversprechen wie Anti-Aging informiert und ebenso wie Hyram inzwischen seine eigene Kollektion verkauft.

Ein Blick auf Leons Account macht schnell deutlich, dass der aktuelle Skincare-Trend nur noch wenig mit den schweren Cremetiegeln vergangener Jahrzehnte gemein hat. Teil einer Hautpflegeroutine sind neben Reinigungsprodukten verschiedene Seren und chemische Peelings, dazu kommen Feuchtigkeitscremes und der unverzichtbare Sonnenschutz. All das wird geschichtet und kombiniert – Unternehmen verkaufen statt Allround-Cremes längst Produkte, auf denen einzelne Wirkstoffe wie Niacinamid und Retinol prominent ausgeschildert sind. Unternehmen, die am Hauptpflege-Boom gut verdienen, sind indes auch mit kritischeren Konsument*innen konfrontiert: Einflussreiche Influencer*innen demonstrieren, dass in sehr hochpreisigen Produkten keineswegs auch immer die besseren Inhaltsstoffe stecken. Und die Kritik an Marken, die ihre Kosmetikprodukte nur auf weiße Haut und glatte Haare abstimmen, befördert erfolgreiche Neugründungen.

"Einzelne Marken haben mittlerweile ein reagenzglasartiges Design, man mixt wie eine Alchemistin und trägt sich das in vielen Schritten auf", sagt Kulturhistorikerin Kohout. Ziel der aufwendigen Pflegeroutinen ist eine ebenmäßige, reine Haut – oder auch ein mysteriöser "Glow": strahlende Haut, die Make-up und Instagramfilter überflüssig machen soll.

Zehn Minuten Auszeit

Auch wenn in den sozialen Medien männliche Skincare-Gurus Millionen von Follower*innen begeistern – die spezialisierte Hautpflege ist nach wie vor überwiegend Frauensache. Und damit auch der einhergehende Schönheitsdruck. "Ebenmäßige Haut, die als unschuldig und natürlich gilt, hat als Schönheitsideal in der westlichen Welt eine lange Tradition", sagt Annekathrin Kohout. Der gegenwärtige Trend aufwendiger Pflegeroutinen sei dennoch aus Ostasien nach Europa geschwappt, insbesondere koreanische Produkte erobern als "K-Beauty" den Markt.

Abseits des Wunschs, die eigene Haut zum Strahlen zu bringen, betonen viele Nutzer*innen jedoch auch den Selfcare-Effekt des Peelens und Schmierens. Sich gemütlich auf dem Sofa eine Gesichtsmaske aufzulegen oder allein vor dem Spiegel ein Pflegeritual zu zelebrieren, sei schlichtweg eine Strategie, sich eine feste Auszeit in den Alltag einzuplanen und so Kraft zu tanken. "Ich würde die Wirkung als Selfcare-Praxis durchaus ernst nehmen", sagt auch Kulturwissenschafterin Kohout.

Nichtsdestotrotz: Hinter den pflegenden Selfcare-Ritualen steht eine Milliardenindustrie. "Wenn wir über Hautpflege sprechen, geht es um Frauen, ihren Körper und ihr Geld", formulierte es die US-amerikanische Journalistin Constance Grady 2018 in einem Text über die im Netz tobenden "skin care wars". Gesellschaftlich werde alles, was Frauen lieben, stets von zwei Kräften vereinnahmt, so Grady: von Unternehmen, die es kommerzialisieren, und von mahnenden Stimmen. Diese würden Frauen mit Vorliebe erklären, dass ihr Tun schlecht für sie selbst und für die Gesellschaft sei.

Unter dem Messer

Teil des globalen Beauty-Trends ist indes auch die steigende Zahl minimalinvasiver Eingriffe. Die Pandemie habe für einen weiteren Boom gesorgt, meldete die Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen. Besonders gefragt seien Botox- und Hyaluron-Anwendungen, hinzu kommen Lidstraffungen und Lippenkorrekturen. Den Anstieg von Gesichtsbehandlungen führt Präsident Steffen Handstein "auf die vermehrte Nutzung von Videokonferenzen, die Nutzung des Smartphones und Social Media" zurück.

Kulturwissenschafterin Kohout beobachtet im Netz eine Enttabuisierung der Debatte über Schönheitseingriffe. Wer sich unters Messer legt und wie viel das kostet – darüber sei lange nicht öffentlich gesprochen worden. Social Media hingegen befördere die Sichtbarkeit des Gemachten: Schönheit kann mit sehr viel Arbeit verbunden sein und kostet Geld. "Ich finde es durchaus positiv, dass diese Debatte in Gang kommt, andererseits ist da ein fader Beigeschmack", sagt Kohout. Hinter Videos von Influencer*innen würden schließlich oft Herstellerfirmen stehen, die ein kommerzielles Interesse verfolgen. "Man muss also sehr genau hinschauen."

Besonders aufmerksam schaut Hautpflege-Fan Magdalena Berger inzwischen bei ihrer eigenen Haut hin. "Seit ich mich damit beschäftige, sehe ich Kleinigkeiten sofort – und es nervt mich mehr als früher. Ob das jetzt also immer zu meinem Wohlbefinden beiträgt – ich weiß es nicht." (Brigitte Theißl, 28.11.2021)