Die Flut hat viele Häuser in Melamchi beschädigt.

Foto: imago images/Skanda Gautam

Es war schon dunkel an jenem Abend, erinnert sich Phurpa Lama. Zuvor hatte er noch ein großes Rumoren gehört, wie ein Donnern, einen heftigen Rumms. Dann war es still. Wenn die Leute nicht gesagt hätten, dass eine Flut kommt – er hätte es nicht mitbekommen. Phurpa Lama war an dem Abend, an dem die Flut über Helambu und Melamchi brach, auf Besuch in seiner Heimat im Zentralnepal. Eigentlich hätte er in einem Resort direkt am Fluss übernachten sollen, erzählt der Mittdreißiger mehrere Monate später kopfschüttelnd.

Doch – Phurpa lacht auf, wenn er von dem puren Zufall erzählt, warum er heute noch lebt – in dem Resort direkt am Fluss funktionierte der Strom nicht. In Nepal, in den Bergen, kann das schon einmal passieren. Es ist nicht außergewöhnlich, wenn die Elektrizität einmal ausfällt. Deshalb haben Phurpa und seine Freunde damals kurzerhand beschlossen, in eine andere Herberge umzuziehen, etwas weiter den Hang hinauf. Etwas weiter über den grünen Reisfeldern, die den Talboden zwischen Melamchi und Timbu bedeckten. Einige Höhenmeter über den Fischfarmen am Ufer, mehrere Höhenmeter über dem Ufer des Melamchi-Fluss.

Die Flut kam nicht wie ein reißender Fluss. Es war eine stille Flut, erinnert sich Phurpa. Wasser, Sand und Geröll haben innerhalb kurzer Zeit den gesamten Talboden bedeckt. "Wenn wir in dem Restaurant unten am Fluss gewesen wären, vielleicht gerade gegessen hätten, wir hätten nicht einmal Zeit gehabt darüber nachzudenken, was gerade passiert", sagt Phurpa und schüttelt wieder den Kopf. "Es ist verrückt."

Seit 2009 engagiert sich Phurpa schon in Sachen Klimaschutz. Vor allem seit dem verheerenden Erdbeben in dem Himalaja-Staat 2015 hat er seine Reisen in die Bergdörfer seiner Heimat intensiviert. Er veranstaltet Klima-Camps, organisiert Solarpaneele für die Dörfer und klärt die Leute über die Grundmechanismen des Klimawandels auf. Dass er einmal mitten in eine Klimakatastrophe geraten würde, in seiner Heimat Helambu, das hätte er nicht geglaubt.

Manche Häuser haben den Fluten standgehalten.
Foto: Sawerthal

An jenem Tag hatte sich weit oben in den höchsten Bergen der Welt, im Himalaja, eine gigantische Schlammmasse gelöst. Ein Damm, der sich über Monate auf rund 4500 Meter Seehöhe gebildet hatte, war hoch oben in Bremathang gebrochen. Das war einer der Hauptgründe für die Flut, erklärten Forschende später.

Dass es überhaupt zu der verheerenden Stauung hatte kommen können, lag laut Klimaforschern unter anderem am Klimawandel. Wo früher nur Schnee fiel, fällt heute auch Regen. Was früher ganzjährig vereist war, taut nun auf. Als der aufgestaute Damm am 15. Juni 2021 brach, ergoss sich eine klebrige, sandige Masse bis weit hinunter ins Tal. Zwischen dem kleinen Ort Timbu und dem lokalen Zentrum Melamchi weiter flussabwärts verschwanden ganze Dörfer unter den Wassermassen. Nicht einmal die Ältesten in der Region können sich an eine vergleichbare Flut erinnern.

Verschwundene Häuser

Ein halbes Jahr später bedeckt eine Lawine aus Stein, Sand und Geröll den gesamten Talboden zwischen Bremathang bis hinunter nach Melamchi Bazar und weiter. Das Wasser ist wieder abgeflossen, das Sediment ist aber zurückgeblieben. Dutzende Kilometer lang gräbt sich der Fluss nun einen neuen Weg durch die Steinlawine. Der Verlauf hat sich nicht nur geändert, der Fluss fließt nun auch um mehrere Meter höher.

Das Wasser ist abgeflossen, Geröllmassen sind aber zurückgeblieben.
Foto: Sawerthal

Früher, vor der Flut, war das Tal zwischen Melamchi und Timbu bedeckt mit grünen Feldern und kleinen Ortschaften, in denen die meisten Menschen vom Ertrag ihrer Felder lebten. Damals lief eine kleine Straße entlang des Flusses, der die rund 20 Kilometer entfernten Orte miteinander verband. Ab Timbu schlängeln sich etliche Forststraßen hinauf in die Berge, in noch entlegenere Dörfer, ins Kernland der Hyolmo, wie die Lokalbevölkerung dort heißt.

Doch wo früher Straße war, kriecht nun der lokale Bus langsam über das graue Schuttfeld. Die aberwitzig gefährliche Fahrt zwischen Melamchi und Timbu dauert fast zwei Stunden. Mal hüpft der Bus die erdigen Reste der Straße an der Seite des Tals entlang, mal holpert er über die Felsbrocken und Geröll halden, die die Flut zurückgelassen hat. Alle paar Hundert Meter fährt er an einem einsamen Haus vorbei, das der Flut stand hielt, Dächer ragen aus dem Geröll.

Statt Reisbauern, die ihre Felder bestellen, bewegen sich vereinzelt Bagger über den riesigen grauen Teppich. Vielleicht kann man noch ein Haus ausgraben? Vielleicht gibt es noch Hab und Gut zu retten? Auch ein halbes Jahr nach der Katastrophe ist nur wenig im Tal aufgeräumt. Die Forellen der Fischfarmen sind mit der Flut weggerissen worden. In den bewaldeten Bergen über dem Tal haben Erdrutsche braune Streifen durch die dunkelgrünen, steilen Wälder gezogen. Aus einem der Dörfer am Waldrand stammt Phurpa.

Moskitos in höheren Lagen

Dass sich die Berge verändern, falle den Einheimischen schon lange auf, sagt er. Egal, ob direkt am Fluss oder oben in den höher besiedelten Regionen von Helambu: Die Menschen, die sich seit Generationen im Gleichgewicht mit einem ohnehin fragilen Ökosystem üben, kommen den klimatischen Veränderungen der letzten Jahre kaum mehr nach. Teiche, die früher das ganze Jahr über Wasser für die Dorfbewohner bereithielten, trocknen nun in manchen Monaten aus. Der Regen wandert immer höher hinauf in die Berge. Ernteerträge werden immer dürftiger. Und in seinem Dorf gibt es nun sogar Moskitos.

Bereits 2019 errechneten Wissenschafter des International Centre for Integrated Mountain Development (ICIMOD) in Kathmandu, dass die Erderwärmung im Himalaja schneller vorangeht als in anderen Regionen der Erde. Die Folgen davon sind bekannt: rasche Gletscherschmelze, Erdrutsche, stärkerer Regen, eine lange Monsun-Saison einerseits, Dürreperioden andererseits.

Helambu war so wie viele Hänge des Himalaja immer schon anfällig für Erdrutsche. Doch sie treten nun immer häufiger in Gegenden auf, die bisher eigentlich davon verschont wurden. Noch Mitte Oktober führten in diesem Jahr massive Regenfälle zu Fluten im Land, wo der Monsun in "normalen" Saisonen schon längst vorbei sein sollte. Laut nepalesischem Innenministerium waren zwischen Juni und Oktober 2021, also während des Monsuns, fast 700 Menschenleben in Zusammenhang mit Überflutungen zu beklagen. Noch viel mehr Menschen haben die Fluten obdachlos gemacht, in vielen Regionen gibt es verheerende Ernteausfälle.

Die Niederschlagsmenge in Helambu lag laut den nepalesischen Behörden zwischen März und Mai 2021 um 130 Prozent über dem Normalwert. Im Juli, einen Monat nach der Sturzflut, kam nach weiteren starken Monsunregenfällen eine zweite Flut über das Tal.

Die klimatischen Veränderungen im Himalaja seien mit ein Grund für diese Katastrophen, erklärt Phurpa. Hinzu komme aber die völlig unpassende Be- und Verbauung der Gebirgsregionen, sagt der Klimaaktivist. Neue Straßen werden in hohem Tempo gebaut, ohne auf klimatische Veränderungen zu achten.

Wasser für Kathmandu

Ein Paradebeispiel für verfehlte Modernisierung ist ein Megaprojekt, das just in Helambu errichtet wurde: das Melamchi Water Supply Project (MWSP). Nur ein paar Hundert Meter flussaufwärts von Timbu beginnt ein 30 Kilometer langer Tunnel, über den Trinkwasser nach Kathmandu transportiert wird. Der Baustart liegt schon lange zurück: Bereits 1998 hatten Ingenieure an dem Tunnelprojekt gearbeitet, das die notorische Trinkwasserknappheit in Nepals Hauptstadt lösen sollte – oftmals unter heftigem Protest der Lokalbevölkerung.

Mal hat die Regierung mit indischen Firmen zusammengearbeitet, mal mit chinesischen. Immer wieder haben sich internationale Vertragspartner aus dem von Korruptionsvorwürfen begleiteten Projekt zurückgezogen, zum Beispiel 2006 ein schwedisches Unternehmen. Der Fertigstellungstermin wurde ständig nach hinten verschoben, die Kosten explodierten. Anfang 2021, hunderte Millionen Euro später, war es endlich so weit. Durch den Tunnel floss erstmals Wasser in Richtung Kathmandu. Doch nur wenige Monate später kam die Flut. Und die hat die Leitung wieder gekappt. Die Infrastruktur ist bis heute schwer beschädigt. Wann wieder Wasser abgeleitet werden kann, ist ungewiss.

Glimpflicher Ausgang

"Die Flut ist nur der Anfang", warnt Phurpa. "Die Entscheidungsträger bedenken nicht den Klimawandel. Es wird noch viel heftiger." Fünf Menschen wurden bei der Flut in Helambu getötet, 20 weitere gelten als vermisst. Die Menschen oben in den Bergen hatten die Menschen unten im Tal warnen können – so fiel die Opferbilanz vergleichsweise gering aus.

Straßen wurde bei der Flut zerstört.
Foto: imago images/Skanda Gautam

Tashi Hyolmo und Kinjo Hyolmo gehören zu jenen, die nach der Flut Soforthilfe leisteten: Über ihre Organisation Hyolmo Media Group verteilten sie in den ersten Tagen danach Reis und Weizen, genauso wie Zelte, Kleidung und Kochutensilien. In den Hängen über dem Fluss finden sich immer noch allerorts Zelte, die direkt nach der Katastrophe für die Obdachlosen aufgestellt wurden. Die Flut hat viele zu "Sukumpaasi" gemacht: Menschen ohne Land und ohne Haus. Die Hilfsgelder und Entschädigungszahlungen, die die Regierung angeboten hat, sind viel zu gering, um sich tatsächlich ein neues Leben aufbauen zu können. Davon sind die beiden überzeugt.

Schon das verheerende Erdbeben 2015 hat in der Region viele Gebäude zerstört, erzählt Tashi. Immer noch sieht man Planen diverser internationalen Hilfsorganisationen an den neuen Häusern, endlich sind manche Unterkünfte wieder aufgebaut. Doch die jüngste Flut hat vielen Menschen nun den gesamten Lebensunterhalt weggerissen. Häuser kann man wieder aufbauen, sagt Tashi, aber die Felder unter dem Geröll sind verloren. "Langfristig ist diese Katastrophe viel verheerender."

Trotz guter Klimabilanz

Es sind Länder wie Nepal, die schon jetzt am meisten unten den Folgen des Klimawandels leiden. Laut dem Entwicklungsprogramm der Uno, UNDP, gehört Nepal zu den weltweit durch den Klimawandel am gefährdetsten Ländern.

Umgekehrt hat das kleine Land im Himalaja kaum Auswirkungen auf die globale Klimabilanz. Als eines der wenigen Länder weltweit hält es laut Climate Action Tracker schon jetzt fast das 1,5-Grad-Ziel ein. So sind es vor allem die wirtschaftsschwachen Länder, die die Klimasünden der reicheren Länder ausbaden müssen. Nepal gehört zu den ersten Mitgliedern des Climate Vulnerable Forum, einer 2009 gegründeten Plattform, der mittlerweile mehr als 50 Länder angehören. Das Forum versucht bis heute, gemeinsam mehr Druck auf reichere Länder auszuüben, um etwa Klima-Entschädigungen zu erreichen – oder zumindest Schuldenerlässe.

Bei der diesjährigen Klimakonferenz in Glasgow wurde zwar viel über diese Forderungen gesprochen, doch konkrete Umsetzungen scheiterten am Widerstand reicher Länder. Außer Schottland, das zwei Millionen Pfund anbot, wollte niemand einzahlen. Das Forum zeigte sich trotzdem optimistisch, betonte aber in einer Stellungnahme, dass noch viel zu tun sei.

Lokales Wissen anzapfen

Für Phurpa liegt das Hauptproblem nicht am Geld, für ihn scheitert es bisher vielmehr an der Umsetzung von guten Vorsätzen. "Sie sprechen über Milliarden und Millionen", sagt er. Doch eigentlich müsse man die Menschen dazu bringen, sich die Klimaveränderungen bewusster zu machen. "Es gibt genug Wissen im Land", sagt er, das anzuzapfen würde nicht einmal viel kosten.

Natürlich sei es wichtig, Infrastruktur aufzubauen, egal, ob das den Straßenbau oder den Ausbau von Energiequellen betrifft. Gerade im Bereich Wasserkraft steckt in dem Land unglaubliches Potenzial. Doch Phurpa wünscht sich, dass die Bauvorhaben in Abstimmung mit der lokalen Bevölkerung umgesetzt werden. Das wäre auch von Vorteil für die Bauverantwortlichen – und das Klima.

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Direkt nach der Flut versuchen Menschen, ihr Hab und Gut aus den Häusern zu retten
Foto: Reuters/N. Chitrakar

Initiativen für eine robuste Klimapolitik sind in dem Land politisch ganz oben angekommen. Doch das Land stolpert seit Jahren von einer Regierungskrise in die nächste, wieder einmal drohen Neuwahlen. Bei allen politischen Lippenbekenntnissen sind es die Menschen im Land gewohnt, dass die Umsetzung oft auf sich warten lässt.

Phurpa reist regelmäßig in die Berge, um dort Klima-Workshops durchzuführen. Er versucht gemeinsam mit den Gemeinden, Probleme zu identifizieren und Lösungen zu erarbeiten. Mal ist das die Anschaffung von Solarpaneelen, mal die Installation einer Anlage zur Regenwassergewinnung.

Alter und neuer Umweltschutz

"Indigene spielen eine wesentliche Rolle dabei, natürliche Ressourcen zu schützen, zeigt sich Phurpa überzeugt. Auch Tashi und Kinjo sehen hier den Schlüssel zum Erfolg. "Früher hatten wir unsere eigenen Umweltschutzmethoden. Sogar wenn wir einen Baum gefällt haben, haben wir eine Art Zeremonie gemacht!", erklärt Tashi. "Das ist die Verbindung zwischen Mensch und Natur", fügt Kinjo hinzu. Die Erklärmuster haben sich heute drastisch geändert, doch die ökologischen Erfordernisse sind die gleichen. Modern ausgedrückt heißt das wohl: nachhaltig bauen und die Lokalbevölkerung einbinden – nicht nur bei den kleinen, sondern auch bei großen Bauvorhaben.

Jetzt, wo der Monsun vorbei ist, haben sich Teams auf den Weg hinauf nach Bremathang gemacht, um das Ausmaß der Zerstörung zu verstehen. Vor allem will man herausfinden, ob mit der Flut vom Sommer alle losen Massen heruntergekommen sind. Im Winter wird der Berg ruhig bleiben, die Minusgrade halten die Wassermassen gefroren. Doch spätestens im Frühling kommt das Tauwetter.

Phurpa zeigt die Fotos und Videos, die er damals während den Überflutungen gemacht hat, auf seinem Handy. "Man glaubt, die Technologie könne die Natur kontrollieren", sagt er. "Doch es ist genau andersrum. Es ist unsere Schuld. Wenn wir die Natur zerstören, wird die Natur uns zerstören. Das ist sicher." (Anna Sawerthal, 28.11.2021)