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An einem Flughafen in Johannesburg wollen noch viele internationale Passagiere rechtzeitig aus dem Land ausreisen.

Foto: AP/Jerome Delay

So schnell kann sich das Schicksal in Corona-Zeiten wandeln. Gerade noch schauten die Südafrikaner verblüfft, aber erleichtert nach Europa: Von der dortigen vierten Welle mit ihren atemberaubenden Ansteckungszahlen war am Kap der Guten Hoffnung noch vor wenigen Tagen nichts zu spüren – da schlug die nächste Bombe ein. Inzwischen wurde bekannt, dass in der südafrikanischen Gauteng-Provinz eine neue Variante des Covid-19-Virus grassiert: ausgerechnet im bevölkerungsreichsten wirtschaftlichen Herzen des Landes. Die ersten Fälle der zunächst noch spröde mit B.1.1.529 bezeichneten Virusversion tauchten im südafrikanischen Nachbarland Botswana auf.

Doch schon kurze Zeit später meldeten die Behörden in der Gauteng-Provinz insgesamt 77 Fälle – auch in Belgien, Israel und Hongkong soll die neue Variante mittlerweile festgestellt worden sein. Zumindest in Hongkong konnten die Infektionen auf einen Reisenden aus Südafrika zurückgeführt werden.

Die eigentliche Hiobsbotschaft hatte Professor Tulio de Oliveira vom südafrikanischen Centre for Epidemic Response and Innovation bereits am Donnerstag verkündet. Die veränderte Virusversion soll insgesamt 50 Mutationen aufweisen, von denen nicht weniger als 30 ausgerechnet in dem Protein angesiedelt sind, mit dem der Erreger an den Zellen des Menschen andockt. Dies ist die Stelle, an denen die Impfstoffe mit ihrem Schutz ansetzen. Veränderungen des Virus können dafür sorgen, dass die bisherigen Vakzine unwirksam sind: Ob das wirklich der Fall ist, können Wissenschafter bislang allerdings noch nicht bestätigen.

Fest steht allerdings, dass es sich bei der Variante um eine "große Überraschung" handelt: "Mit einem derartigen Sprung in der Evolution des Erregers hat keiner gerechnet", räumte Virologe de Oliveira ein. Es sei die "bisher besorgniserregendste Variante" des Corona-Erregers, meint die Chefberaterin der britischen Gesundheits-Sicherheitsagentur, Susan Hopkins.

Infektionen in die Höhe geschossen

Besorgt stellte Südafrikas Gesundheitsbehörde in den vergangenen Tagen eine Explosion der Ansteckungsrate fest. Von täglich knapp 500 Infektionen zu Beginn dieser Woche schoss die Zahl bis Donnerstag um das Fünffache in die Höhe. Besonders betroffen seien Zehn- bis Dreißigjährige in der Hauptstadt Pretoria, heißt es: Vor allem unter Studenten der dortigen Hochschule soll die Bombe eingeschlagen haben. Ob dafür "superspreading events" oder eine wesentlich stärkere Ansteckungskraft des Virus verantwortlich ist – auch darüber herrscht bisher Rätselraten.

Vor allem europäische Staaten reagierten umgehend auf die Hiobsbotschaft aus Südafrika. Als erste Regierung stoppte die britische den Flugverkehr zwischen Johannesburg, Kapstadt und London – die deutsche Bundesregierung folgte mit einem Verbot der Beförderung nichtdeutscher Reisender aus Südafrika, und auch die EU bereitet derzeit strikte Reisebeschränkungen vor. Die Flugverbindung zwischen dem Kap und der britischen Insel sollen drei Tage lang ganz gekappt werden, bis Hotels neue Quarantäneeinrichtungen etabliert haben.

"Übereilte" Restriktionen

Sowohl in Südafrika als auch bei der WHO sorgte der Reisebann für starke Verstimmung. Die Restriktionen seien "übereilt", meinte Helen Rees, Vorsitzende der strategischen Beratergruppe der WHO: Noch sei über die wirkliche Herkunft der Virenvariante viel zu wenig bekannt. Die internationale Isolierung kurz vor der touristischen Hauptsaison droht das wirtschaftlich ohnehin schwer angeschlagene Land im Solarplexus zu treffen. Schon beim Bekanntwerden der Beta-Variante vor einem Jahr hatte Europa die Grenzen für Südafrikaner dichtgemacht und daran monatelang festgehalten – obwohl sich das Beta-Virus gegenüber der indischen Delta-Variante bald als vernachlässigbar erwies.

"Schon wieder dasselbe Lied", empört sich der Johannesburger Zukunftsforscher Graeme Codrington. Einmal mehr werde das Land am Kap der Guten Hoffnung von den Europäern abgestraft: "Nur weil seine Virologen zu den besten der Welt gehören." Manche Wissenschafter gehen davon aus, dass die neue Variante schon wesentlich weiter in der Welt verbreitet sei als bisher angenommen – nur dass sie in anderen Ländern noch nicht festgestellt wurde, während die von der HIV/Aids- und Tuberkulose-Epidemie versierten Fachleute am Kap an vorderster Front der Forschung stünden. "Dass wir die Ersten sind, die die neue Variante festgestellt haben, bedeutet keineswegs, dass sie auch hier entstanden ist", meint Codrington.

Andere Fachleute halten es für naheliegend, dass die neue Version tatsächlich im südlichen Afrika entstanden ist. Ein Erreger mit derartig vielen Mutationen habe sich aller Wahrscheinlichkeit nach in einem Patienten mit einem ohnehin kompromittierten Immunsystem herausgebildet, der monatelang gegen das Virus gekämpft habe, heißt es: ausreichend Zeit für den Erreger, sich auf vielfältige Weise weiterzuentwickeln. Menschen mit kompromittiertem Immunsystem gibt es unter den südafrikanischen HIV- und Tuberkulose-Infizierten mehr als irgendwo anders auf der Welt. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 26.11.2021)