Nepomnjaschtschi fordert Carlsen.

Foto: APA/AFP/CACACE

Die Kontrahenten Im Glaskasten.

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Dubai – Jan Nepomnjaschtschi hat lange gewartet. Seit Monaten hat der Russe mit seinem Team aus Sekundanten, von denen nur der ehemalige Europameister Wladimir Potkin der Öffentlichkeit bekannt ist, für dieses Match trainiert. Sogar vom Fitnesstrainer der Basketballmannschaft von Bayern München hat sich Nepo, körperlich zuvor nicht unbedingt in Topform, Tipps für die Verbesserung seiner Fitness geholt. Denn Schach, man glaubt es kaum, ist ein anstrengendes Spiel: zunächst psychisch, auf die Dauer aber auch physisch – und zwar umso mehr, wenn einem am anderen Ende des Brettes 14 Runden lang ein austrainierter Weltmeister gegenübersitzt.

Nepomnjaschtschi wurden für diese erste Partie die weißen Steine zugelost. Als er hinter der schalldichten Glaswand auf dem Expo-Gelände von Dubai um 13:30 mitteleuropäischer Zeit seinen Königsbauern zwei Felder nach vorne schiebt, hat das Warten endlich ein Ende. Nicht nur für ihn, auch für die in den vergangenen Jahren stark angewachsene Weltgemeinschaft an Schachfans und -enthusiasten. Ihnen steht diesmal eine geradezu verschwenderische Auswahl an Livekommentaren kompetenter Großmeister in verschiedensten Sprachen zur Verfügung. Wer es Englisch mag, kann sich unter anderem wahlweise vom WM-Kandidaten Fabiano Caruana (chess.com), den Top-GMs Judit Polgár und Anish Giri (chess24.com) oder Ex-Weltmeister Viswanathan Anand (fideworldchampionship.com) erklären lassen, was Magnus Carlsen und sein Herausforderer auf den 64 Feldern so treiben. Und vor allem: warum sie tun, was sie tun.

Mit Randspringer und mysteriösem Turmzug

Der Erste, der in der Spanischen Partie, die bald auf dem Brett steht, etwas Ungewöhnliches tut, ist der mit Schwarz spielende Weltmeister. Er stellt im achten Zug seinen Springer an den linken Brettrand und lässt damit seinen Königsbauern einstehen. Natürlich hat das Methode: Carlsen opfert den Bauern, kann dafür aber den weißfeldrigen Läufer Nepos beseitigen und das Zentrum für seine Figuren öffnen. Und natürlich ist das nicht ganz neu: So wurde schon gespielt. Dennoch ist es ein weniger ausgetretener Pfad als viele andere Zugfolgen in dieser Eröffnung, die im Englischen nach ihrem Erfinder, einem spanischen Priester aus dem 16. Jahrhundert namens Ruy Lopez, benannt ist.

Ein paar Züge später ereignet sich etwas, das stilbildend für diese WM werden könnte. Wie Vize-Weltmeister und WM-Kommentator Caruana den Zuschauern im Livestream erläutert, räumt Jan Nepomnjaschtschi seinem Gegner die Möglichkeit ein, eine enorm scharfe Variante zu wählen, in der die schwarze Dame in die Königsstellung des Weißen eindringt. Auf den ersten Blick sieht das geradezu selbstmörderisch aus. Aber Nepo und sein Team haben in ihrer Vorbereitung offenbar Mittel und Wege gefunden, die Zugfolge für den Anziehenden spielbar und erfolgversprechend zu machen.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 1.
Österreichischer Schachbund

Nur: Noch bevor sich die Fans in aller Welt die Hände ob einer bevorstehenden Königshatz reiben können, spielt der Weltmeister einen Zug, der für Normalsterbliche geradezu bizarr aussieht. Bei offener Stellung bringt Carlsen seinen Königsturm nicht etwa ins Zentrum, sondern schiebt ihn bis zum Anschlag auf den Damenflügel hinüber, wo er seinen Kollegen auf a8 abklemmt und hinter dem weißfeldrigen Läufer keinerlei Perspektive zu haben scheint. Nepo stutzt, schaut verwundert drein und beginnt nachzudenken. Schließlich tauscht der Russe die Damen, weil ihm nichts anderes übrigbleibt. Er hat jetzt einen Bauern mehr, und sein König ist in Sicherheit. Aber zugleich hat Magnus Carlsen seinem Herausforderer mit dieser Zugfolge jede Chance genommen, eine komplexe, taktisch geprägte Partie zu spielen.

Stattdessen steht nun früh ein Endspiel auf dem Brett, wie Carlsen es liebt – mit Läuferpaar, besserer Bauernstruktur und Entwicklungsvorsprung für den Champ. Dafür musste der Norweger zwar einen Bauern ins Geschäft stecken. Aber er weiß, dass seine aktiven Figuren diesen materiellen Nachteil zumindest annähernd kompensieren. Und er hat diese erste Partie früh in ein Fahrwasser gelenkt, in dem er sich wie kein anderer als Kapitän fühlt.

Ohne Daumenschrauben

Bald scheint die Partie nach Carlsens Logbuch abzulaufen. Ein von Kommentator Caruana zunächst kritisierter Springerrückzug des Weltmeisters erweist sich als tiefes Manöver zur Umgruppierung der schwarzen Reiterei. Wollte Nepo noch irgendwie auf Vorteil hoffen, müsste er sich nun auf eine Art Springerringelspiel einlassen, an dessen Ende schwarzes wie weißes Rössel auf Feldern landeten, die sie auch sehr viel schneller hätten erreichen können. Die Einladung dazu scheint dem Russen Schwindel zu verursachen. Er vereinfacht lieber das Spiel, halbiert Carlsens Läuferpaar, bleibt dafür aber bald auf einer recht kaputten Bauernstruktur und passiven Figuren sitzen.

Das ist der Punkt, an dem alle Beobachter damit rechnen, dass Carlsen seinem in WM-Partien noch grünen Herausforderer die Daumenschrauben ansetzen wird. Der Weltmeister, von dem man gerne sagt, dass er Wasser aus einem Stein zu pressen vermöge, liebt Endspiele, in denen er die gegnerischen Schwächen massieren und den Druck Zug um Zug unmerklich erhöhen kann, bis – kaum weiß man wie – die Partie für seine Gegner unhaltbar wird.

Erstaunlicherweise passiert nichts dergleichen. Unmittelbar vor der Zeitkontrolle im 40. Zug nimmt Carlsen sich mit einem überflüssigen Turmzug jede Möglichkeit, weiter auf Gewinn zu spielen. Nepomnjaschtschi, der seinen Mehrbauern längst zurückgegeben und dafür seine Figuren aktiviert hat, könnte nun womöglich sogar eine Idee besser stehen. Der Russe schneidet Grimassen, wiegt den Kopf hin und her. Als Jugendlicher wollte er jede Partie gewinnen, sagen seine Trainer, was manchmal nach hinten losging. Heute ist Nepo älter, reifer, fitter – und außerdem sitzt ihm der Weltmeister gegenüber. Nach 45 Zügen und etwa vier Stunden Spielzeit lässt er es gut sein für diese erste Partie und schickt sich ins Remis, indem er eine dreimalige Stellungswiederholung herbeiführt.

Eine andere Partie

In der nachgelagerten Pressekonferenz geben sich die Kontrahenten wortkarg, aber beiderseits nicht unzufrieden. Für Carlsen ist das Schwarzremis okay, auch wenn er sich zwischendurch etwas unsicher gefühlt habe. Für Nepomnjaschtschi ist das Weißremis okay, auch wenn er die meiste Zeit optimistisch gewesen sei. Was auffällt: Keiner der beiden ist der Ansicht, dass Carlsen im Endspiel Druck ausüben konnte, obwohl die ganze kiebitzende Schachwelt davon überzeugt war und auch die Computerprogramme dem Schwarzen zumindest leichten Vorteil attestierten.

Magnus Carlsen und Jan Nepomnjaschtschi, sie scheinen eine etwas andere erste Partie dieser WM erlebt zu haben als das Publikum. Was das in psychologischer Hinsicht für den weiteren Wettkampf bedeutet, wird sich bereits Samstag ab 13:30 MEZ zeigen. Dann führt der Weltmeister erstmals in diesem Match zu Dubai die weißen Steine. Es steht 1/2-1/2. (Anatol Vitouch, 26.11.2021)