Zehn Szenarien, die den Long Boom entgleisen lassen können (aus "Wired" 7/1997).

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Wir schreiben das Jahr 1997. Die Wirtschaft läuft, die Tamagotchis landen in Europa, Josef Broukal und Gabriele Haring erklären den Österreichern das Internet, das Land fiebert mit dem Nationalteam mit, das sich in diesem Jahr zum bislang letzten Mal für eine Fußball-WM qualifizieren sollte.

Die Zukunft schaut rosig aus. Beim Tech-Magazin "Wired" macht man sich hingegen in der Juli-Ausgabe Gedanken über den "Long Boom". Man überlegt sich zehn Szenarien, die die Welt künftig vor schwere Herausforderungen und die rosig scheinende Zukunft infrage stellen könnten. 24 Jahre später kann man rückblickend feststellen, dass die Autoren erstaunlich treffsicher waren.

Ein Twitter-User hat das damalige Heft wieder ausgegraben. Zeit für eine kurze Bewertung. Einen Punkt gibt es für weitgehend erfüllte Szenarien, einen halben für solche, die bereits erfüllt waren oder zumindest zu einem wichtigen Teil erfüllt wurden. Null Punkte gibt es, wenn nichts oder nur wenig zutrifft.

Szenario 1: Spannungen zwischen China und den USA eskalieren in einem neuen Kalten Krieg, der an einen tatsächlichen Krieg grenzt.

Bewertung: Gerade in den letzten Jahren und speziell unter der mittlerweile abgelösten Trump-Regierung ist der Ton zwischen Washington und Peking rauer und die Bandagen härter geworden. Knapp an einer Auseinandersetzung mit Waffen ist man wohl noch nicht, aber Taiwan – zu dessen Schutzmacht Trumps Nachfolger Joe Biden die USA de facto ausgerufen hat – könnte ein militärischer Zankapfel werden. Insgesamt also Treffer. (1/10)

Szenario 2: Neue Technologien floppen. Sie bringen nicht die erwarteten Produktivitätsgewinne oder den großen wirtschaftlichen Anstoß.

Bewertung: Gerade angesichts des Entstehens und Platzens der Dotcom-Blase wäre man wohl Anfang der 2000er geneigt gewesen, dieses Szenario vorbehaltlos als erfüllt anzusehen. Trotz dieses Rückfalls sind die Menschen heute so produktiv wie nie, die Automatisierung vieler Berufsbereiche schreitet voran. Selbstfahrende Autos stehen – mehr oder weniger – vor der Tür, an Exoskeletten wird gearbeitet, und die Digitalisierung hat pandemiebedingt einen deutlichen Schub erhalten. Halbe-halbe. (+0,5 = 1,5/10)

Szenario 3: Russland entwickelt sich zu einer Kleptokratie zurück, die von der Mafia geführt wird, oder zieht sich in quasikommunistischen Nationalismus zurück, der Europa bedroht.

Bewertung: Ob der Begriff Kleptokratie für Russland angebracht ist, ist schwer zu beurteilen, der Begriff "Oligarchie" findet aber weithin Verwendung. In Sachen Demokratie und Menschenrechte macht das Land beständig Rückschritte. Wladimir Putins autoritärer Machtapparat pflegt auch den Nationalismus, wenngleich das System an sich kaum kommunistische Züge trägt. Die Krim-Krise, die Situation in der Ostukraine und Spannungen in anderen Grenzgebieten sorgen jedenfalls für eine Bedrohungslage für Europa. (+1 = 2,5/10)

Szenario 4: Europas Integrationsprozess kommt zum Erliegen. Ost- und Westeuropa können keine Wiedervereinigung verhandeln, und auch der europäische Vereinigungsprozess bricht zusammen.

Wirtschaftskrise, Fluchtbewegungen, Russland – in vielerlei Fragen tun sich die EU-Staaten schwer, eine gemeinsame Linie zu finden. Ein Resultat nicht nur von kulturellen Unterschieden, sondern freilich auch verursacht von Politikern, denen nationales politisches Kleingeld wichtiger ist als das "große Ganze". Mit Großbritannien hat auch ein erster Staat das bis dahin schier Undenkbare getan und ist ausgetreten, die Nachwehen der komplizierten Herauslösung wirken bis heute nach. Auch Österreichs Rolle ist längst nicht immer konstruktiv.

Dazu kommen regelmäßige Troubles mit Staaten, die in Richtung Autokratie abdriften, insbesondere Ungarn und Polen, deren Regierungen sich Brüssel zum Feindbild ersonnen haben. Ganz so düster wie die von "Wired" beschriebene Lage ist die Situation zwar (noch?) nicht, aber insgesamt hat man es nicht schlecht getroffen (+1 = 3,5/10)

Szenario 5: Große ökologische Krisen verursachen unter anderem einen globalen Klimawandel, der die Nahrungsmittelversorgung behindert – und dabei große Preissteigerungen und sporadische Hungersnöte auslöst.

Bewertung: Auch hier zeichnet die theoretische Dystopie ein fataleres Bild als die Praxis. Ökologische Krisen gibt es, ebenso nehmen extreme Wetterphänomene zu, aber noch sind die Auswirkungen auf die Essensversorgung begrenzt. Das könnte freilich, wenn man den Experten glaubt, in wenigen Jahrzehnten schon anders sein, wenn der Anstieg der Weltdurchschnittstemperatur durch eine Reduktion des Treibhausgassausstoßes nicht unter einem gewissen Level gehalten wird. Eine wirklich tragfähige Einigung fehlt aber trotz mehrerer großer Klimakonferenzen nach wie vor. Im Moment ist die Darstellung eher halbrichtig, die Frage ist nur, wie lange noch. (+0,5 = 4/10)

Szenario 6: Ein massiver Anstieg an Kriminalität und Terrorismus zwingt die Welt, sich in Angst zurückzuziehen. Menschen, die sich ständig so fühlen, als könnten sie in die Luft gejagt oder betrogen werden, sind nicht in der Stimmung, auf andere zuzugehen und sich zu öffnen.

Bewertung: Vier Jahre und zwei Monate nach Erscheinen dieser "Wired"-Ausgabe sorgte der Terroranschlag von Al-Kaida auf das New Yorker World Trade Center für ein weltweites Beben. Es folgte ein Krieg in Afghanistan, um die Taliban, die als Hauptunterstützer der Terrororganisation galten, zu stürzen. Das gelang zwar, aber nicht dauerhaft, 20 Jahre später übernahm die radikalislamische Bewegung wieder die Macht, als die USA abzogen und das afghanische Militär kaum effektiven Widerstand leisten konnte oder wollte. In der Zeit dazwischen wurden Flugreisebestimmungen verschärft und viele Überwachungsmaßnahmen gesetzt, und Cyberkriminalität und Hackerangriffe eroberten die Schlagzeilen.

So bedrückend das klingt, so wichtig ist auch der Hinweis auf den Widerstand. Immer wieder setzten sich Aktivisten mit Erfolg gegen Vorstöße wie die Vorratsdatenspeicherung ein. Der Whistleblower Edward Snowden zeigte auf, wie weit die Bespitzelung durch verschiedene Geheimdienste tatsächlich reichte. Langsam, aber doch wurde die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert. Und dass es doch noch das Bedürfnis gibt zusammenzurücken, bewies nicht nur die Unterstützung, die viele zu Beginn der Flüchtlingskrise gegenüber den Neuankömmlingen boten, sondern auch der Boom von Videochats und "sozialen" Videospielen während der Pandemie. Der Mensch bleibt ein soziales Tier, daran scheint nicht zu rütteln zu sein. (+0,5 = 4,5/10)

Szenario 7: Die kumulative Eskalation der Umweltverschmutzung sorgt für einen dramatischen Anstieg der Krebskrankheiten, der das schlecht vorbereitete Gesundheitssystem überfordert.

Bewertung: Dieses Szenario scheint spezifisch auf die USA bezogen zu sein. Umweltverschmutzung ist dort zwar immer wieder ein Thema, und auch begrenzte Gesundheitskrisen – etwa das bleiverseuchte Wasser in Flint – waren zu vermelden. Doch ein Boom der Krebserkrankungen hat nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Auch in den USA sind sowohl die Krebsinzidenz als auch die Mortalität bei Krebserkrankungen seit 1997 deutlich gesunken. (+0 = 4,5/10)

Szenario 8: Energiepreise gehen durch die Decke, Konflikte im Nahen Osten stören die Ölversorgung, und alternative Energiequellen werden nicht erschlossen.

Bewertung: Die Energiepreise haben zwar seit 1997 immer wieder fluktuiert, sind aber insgesamt nicht "durch die Decke gegangen". Einzig Öl, als absehbar endliche Ressource, ist im Vergleich zu 1997 am Weltmarkt merkbar teurer geworden. Es kostete aber zwischenzeitlich, speziell in den Jahren nach der Wirtschaftskrise 2008, auch schon deutlich mehr. Der Nahe Osten ist freilich noch immer keine Vorzeigeregion für politische Stabilität. Alternative Energieträger sind vorhanden, wenn auch nicht immer einfach zu erschließen,. Und gerade viele Staaten, die historisch stark an Gas- und Kohlekraft hängen, sind bei der Energiewende im Verzug. (+0,5 = 5/10)

Szenario 9: Eine unkontrollierbare Seuche – eine moderne Influenza-Epidemie oder etwas Vergleichbares – verbreitet sich wie ein Waldbrand und tötet mehr als 200 Millionen Menschen.

Bewertung: Dieses Szenario trifft eigentlich wie die buchstäbliche "Faust aufs Auge" – bis auf den glücklichen Umstand, dass das Coronavirus Sars-CoV-2 nicht so tödlich ist wie die "Spanische Grippe", die von 1918 bis 1920 rund um die Welt wütete und bis zu 50 Millionen Opfer forderte. Nach aktuellen Zahlen haben aber bereits fünf Millionen Menschen ihr Leben durch Covid-19 verloren. Aufgrund der aktuellen Situation mag die Wertung vielleicht übertrieben sein, aber dieses Szenario verdient sich trotz der geringeren Opferzahl einen vollen Punkt. (+1 = 6/10)

Szenario 10: Ein sozialer und kultureller Backlash erstickt den Fortschritt. Menschen müssen sich entscheiden, ob sie vorwärts gehen wollen. Und vielleicht entscheiden sie sich dagegen.

Bewertung: Russland, Polen, Ungarn, die Türkei – Donald Trump in den USA, Xi Jinping in China, Jair Bolsonaro in Brasilien, Nicolás Maduro in Venezuela, Rodrigo Duterte auf den Philippinen, Kim Jong-un in Nordkorea: Wer für eine liberale Gesellschaft mit entsprechenden Bürgerrechten einsteht, hatte es in den vergangenen Jahren nicht leicht. In vielen Ländern – die Liste ist unvollständig – halten sich entweder autokratische Machthaber seit Jahren im Amt, oder es wurden Politiker mit autokratischen Tendenzen in hohe Ämter gewählt.

Nachdem laut Demokratie-Index seit den 1940ern viele Länder eigentlich den Sprung zu mehr oder weniger gefestigten Demokratien schafften, waren die letzten Jahre besorgniserregend. Zuletzt wurden wieder so viele Länder wie schon seit zehn Jahren nicht mehr als "elektorale" oder "geschlossene Autokratien" eingestuft, und der Trend in vielen Ländern zeigt in keine gute Richtung. Zudem darf der Gesamtblick nicht täuschen. 52 Prozent aller Staaten gelten zwar als demokratisch, doch gemessen an der Einwohnerzahl leben mehr als zwei Drittel aller Menschen der Welt in autokratischen Systemen.

Immer wieder gelingen Progressiven auch Erfolge, so wurde etwa Donald Trump nach einer Amtszeit abgewählt. Ob es sich dabei um Achtungserfolge oder Zeichen einer Trendwende handelt, bleibt abzuwarten. Auch innerhalb von Gesellschaften tun sich zudem Konfliktherde auf, wie eben an der politischen Situation in den USA immer noch ersichtlich ist und auch die Corona-Pandemie in vielen Ländern deutlich macht. (+1 = 7/10)

Fazit

Mit 7 von 10 Punkten und nur einem Szenario, das gar nicht punktet, lag Wired mit seinen dystopischen Spoilern wohl richtiger, als vielen lieb ist. Grund zur Verzweiflung muss das natürlich keiner sein, aber es sollte zur Wachsamkeit anspornen. Wie hätten Sie die Szenarien bewertet? Posten sie Ihre Punktewertung ins Forum! (Georg Pichler, 2.12.2021)