Nepomnjaschtschi denkt.

Foto: AFP/CACACE

Carlsen denkt.

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Beide denken.

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Dubai – Am Sonntag kommt Jan Nepomnjaschtschi mit einem Plan ans Brett: Er will den Weltmeister foppen, wie der ihn am Vortag gefoppt hat. Der Norweger hatte FIDE-Präsident Arkadi Dworkowitsch, der in Partie zwei den symbolischen ersten Zug ausführte, nämlich absichtlich den falschen Bauern angesagt (1. e2-e4) – ein kleiner Scherz und vielleicht auch ein Hauch psychologische Kriegsführung, um die Reaktion des Herausforderers auf diesen Zug in seinem Gesicht ablesen zu können: Schmeckt er ihm? Oder rutscht ihm ob der Überraschung das Herz in die Hose?

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 3.
Österreichischer Schachbund

Carlsen stellte den Bauern am Samstag zurück und zog stattdessen 1. d2-d4. Heute kopiert Nepo das weltmeisterliche Mätzchen, lässt erst d4 aufs Brett stellen, um es dann durch den Doppelschritt des Königsbauern zu ersetzen. Kopiert wirkt der Schmäh ein wenig abgenutzt, aber solche Nickligkeiten, wie es die deutschen Fußballkommentatoren gerne nennen, werden das Match wohl nicht entscheiden.

Anti-Marshall

Die Güte der Eröffnungsvorbereitung der beiden Kontrahenten schon eher. Und in diesem Punkt zeigen beide Spieler in Runde drei eine erhebliche Steigerung. Nepo, weil es ihm gelingt, mit leichtem Vorteil oder zumindest einer spürbaren Initiative aus der Spanischen Eröffnung zu kommen. Und Carlsen, weil er die von seinem Gegner präparierte Variante offenbar recht tief vorhergesehen hat, wenig Zeit verbraucht und sich voll auf der Höhe der komplexen strategischen Probleme zeigt.

Diskutiert wird an diesem Sonntag eine sogenannte Anti-Marshall-Variante – allerdings eine andere als in Partie eins, wo Carlsen Nepomnjaschtschis 8.h3 mit dem selten gesehenen Bauernopfer 8...Sa5 konterte. Diesmal hat sich der Herausforderer für 8.a4 entschieden und seine Hausaufgaben offenbar gründlich gemacht. Aber warum muss der stattdessen nach 8.c3 d5 entstehende Marshall-Angriff eigentlich durch alle möglichen Anti-Varianten vermieden werden?

20 Jahre Wartezeit

Die schachhistorische Anekdote dazu geht, kurz erzählt, so: Frank Marshall, seines Zeichens US-amerikanischer Top-Spieler im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, entdeckte um 1900 die Idee, den für den Nachziehenden wenig ersprießlichen Hauptvarianten des geschlossenen Spaniers zu entgehen, indem man mittels 8...d5 den eigenen Königsbauern opfert. Dafür bekommt Schwarz offene Linien und Diagonalen für seine besser entwickelten Figuren und oftmals heftigen Angriff gegen den weißen König.

Marshall wusste, dass er eine eröffnungstheoretische Bombe gebaut hatte. Aber er wollte sie nicht gegen irgendjemanden zünden. Deshalb wartete er fast 20 Jahre lang, bis sich die perfekte Gelegenheit bot: 1918 in New York City entkorkte Marshall die Neuerung gegen keinen anderen als den späteren Weltmeister José Raul Capablanca – und verlor die Partie nach 36 Zügen.

Dieser wenig ersprießlichen Premiere zum Trotz entwickelte sich der Marshall-Angriff im Lauf des 20. Jahrhunderts zu einer der meistgefürchteten Waffen gegen die Spanische Partie. In zehntausenden Partien versuchten die Weißen so ziemlich alles, ohne greifbaren Vorteil gegen die schwarze Initiative nachweisen zu können. Inzwischen gehört sie zu den am weitesten ausanalysierten Abspielen im Schach und wird auf Profi-Ebene von Weiß kaum mehr zugelassen.

Langsame Manöver

Auch Jan Nepomnjaschtschi hat keine Lust auf Marshall und wählt stattdessen eine Variante, mit der er Carlsens Damenflügel früh einem gewissen lästigen Druck aussetzt. Bei geschlossenem Zentrum ist genug Zeit für geometrische Springermanöver vorhanden: Nepo bringt sein Rössel auf der Route b1-d2-f1-e3-c4 auf ein aussichtsreiches Feld, während der Weltmeister eine Auffangstellung einnimmt, um Weiß keinen Ansatz für sein Spiel zu bieten.

Als Carlsen mit 17...Lc8 auch noch seinen zweiten Läufer auf sein Ausgangsfeld zurückzieht (der andere steht schon seit dem 12. Zug auf f8 geparkt), sieht der Russe sich veranlasst, das Zentrum zu öffnen: Wer besser entwickelt ist, der soll genau das tun, das weiß – einem englischen Sprichwort zufolge – jeder russische Schulbub.

Das Problem ist nur: Carlsen hat das alles vorhergesehen, und zwar womöglich bereits in seiner eröffnungstheoretischen Giftküche daheim im schönen Norwegen. Obwohl die Partie die gut ausgeschilderten Theoriepfade früh verlassen hat, scheint der Weltmeister mit jedem Schritt, den Nepomnjaschtschi tut, ausreichend vertraut zu sein, um die exakt passende Gegenbewegung einzuleiten. Ausgangs der Eröffnung bringt Carlsen seinen Springer etwa von c6 nach e7, nur um ihn gleich darauf und ohne viel Nachdenken wieder nach c6 zurückzuführen. Ein scheinbar paradoxes Manöver, das sich jedoch als perfekt getimte Reaktion auf Nepos Versuch, eine anhaltende Initiative zu entfalten, erweist.

Das dritte Remis

So kommt es bald, wie es mitunter kommen muss, wenn ein perfekt präparierter Weltmeister mit den schwarzen Steinen die Punkteteilung anstrebt: Nachdem Carlsen mit 22...d5 den Gegendurchbruch im Zentrum angebracht hat, trudelt die Partie per Generalabtausch auf den offenen Linien bald in ein totremises Läuferendspiel aus.

Nepomnjaschtschi und sein Team werden sich für Partie fünf etwas Neues einfallen lassen müssen, wenn der Herausforderer mit Weiß in diesem Match etwas Greifbares erreichen will. Zuvor führt der Weltmeister am Dienstag – am Montag wird geruht – zum zweiten Mal in diesem Match die weißen Steine. (Anatol Vitouch, 28.11.2021)