Florian Krammer beantwortet Fragen der STANDARD-Community rund um Corona und die Impfung.
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Diese Woche beantwortet der Virologe und Impfstoffforscher der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York, Florian Krammer, Fragen der STANDARD-Community rund um die Virusmutationen, die Boosterimpfung und Totimpfstoffe.

Antwort: ADE oder Antibody-dependent Enhancement beschreibt ein Phänomen, bei dem schon existierende Antikörper ein Virus nicht neutralisieren können, sondern sogar die Aufnahmen in manche Zellen erleichtern. Das Phänomen ist für Dengue-Viren in Menschen beschrieben. Bei Sars-CoV-1 (das von 2002 bis 2004 in Menschen zirkulierte, aber nach etwa 8.000 Fällen aufgehalten werden konnte) sah man in manchen Tiermodellen, dass eine Teilimmunität eine stärkere Erkrankung hervorrufen konnte. Allerdings ist nicht klar, ob es sich dabei um ADE gehandelt hat oder nicht. Eine Impfung mit dem Nukleoprotein (das sich in der Zelle beziehungsweise im Viruspartikel versteckt und daher für Antikörper schwer zu erreichen ist) zum Beispiel hatte denselben Effekt. Und der Effekt wurde auch nur in einem Teil der Studien gesehen, in anderen Studien wurde ein Schutz nachgewiesen. Für die Aficionados: Die momentane Annahme ist, dass es sich eher um eine zu starke Th2-polarisierte Immunantwort gehandelt hat und nicht um ADE.

Als die Impfstoffentwicklung mit Sars-CoV-2 begann, hat man das natürlich untersucht, und man konnte im Tiermodell keinen solchen Effekt finden. Auch im Menschen sehen wir den weder bei Durchbruchsinfektionen noch bei Reinfektionen. Und da es leider schon viele (vor allem in Südafrika) Reinfektionen und Durchbruchsinfektionen mit Omikron gegeben hat, trifft das sehr wahrscheinlich auch auf Omikron zu.

Antwort: Grundsätzlich ist Omikron die erste Variante, bei der man so etwas ernsthaft in Betracht ziehen sollte. In den ersten zehn Monaten des Ausbruchs haben wir eigentlich wenig Virusevolution gesehen, es hat bis Ende 2020 gedauert, bis "richtige" Varianten aufgetaucht sind (Alpha, Beta und Gamma). Aber Ihre Frage ist natürlich sehr gut und berechtigt. Das Immunsystem ist sehr lernfähig, und vor allem unsere B-Zellen, die Antikörper herstellen, können mit jeder Begegnung mit einem Antigen (zum Beispiel eben dem Spike-Protein) dazulernen, auch wenn sich das Antigen verändert hat – auf das gehe ich bei der nächsten Frage noch näher ein.

Welche Abstände hier Sinn machen, ist noch nicht klar. Meine Spekulation ist, dass wir entweder alle paar Jahre eine Auffrischung brauchen oder eben anlassbezogen, wenn eine neue Variante auftaucht, die das nötig macht – was bei den meisten Varianten nicht der Fall ist. Grundsätzlich könnte man natürlich schon jedes Jahr impfen, wie man das bei Influenza tut, aber ich glaube eben nicht, dass das hier der Fall sein wird.

Sollte es notwendig werden, jährlich zu impfen, kann ich mir aber vorstellen, dass sich Impfstoffe mit weniger Reaktogenität (das bezeichnet die harmlosen, aber unangenehmen Nebenwirkungen einer Impfung) durchsetzen. Viele Leute leiden nach den Vektor- oder RNA-Impfungen an Schmerzen an der Einstichstelle, erhöhter Temperatur, Müdigkeit etc. Wie gesagt, da handelt es sich um keine gefährlichen Nebenwirkungen, und diese halten auch nicht lange an, aber sie sind unangenehm. Wer will das schon jedes Jahr? Was ich mir vorstellen kann, ist, dass, wenn es notwendig wird, jährlich zu impfen, und wenn andere Impfstofftechnologien (wie etwa rekombinante Proteinimpfstoffe) zur Verfügung stehen, die genauso gut wirken, aber weniger Nebenwirkungen haben, sich diese Impfstoffe dann gegen die RNA- und Vektorimpfstoffe am Markt durchsetzen.

Antwort: Sehr gute Frage, da kennt sich wer aus. Ich kann mir bei Sars-CoV-2 folgende zwei Szenarien vorstellen – und das trifft auf Impfungen wie auch durch Infektion induzierte Immunantworten zu.

  1. Es sieht eher so aus wie bei H5N1-Impfstoffen. Da hat man gesehen, dass es besser ist, zuerst mit Virusstamm 1 zu impfen und dann die zweite Impfung mit Virusstamm 2 zu geben, als zweimal den gleichen Stamm zu verwenden (wir nennen die Stämme Clades). Die Immunantwort wurde dadurch breiter und stärker. Gedächtnis-B-Zellen, die während der ersten Impfung gebildet wurden, werden da reaktiviert, durchlaufen eine weitere Affinitätsreifung und lernen dann eben, an beide Stämme zu binden beziehungsweise so flexibel zu binden, dass sie auch weitere Stämme neutralisieren können, die das Immunsystem noch gar nicht gesehen hat. Das wäre auch meine Vermutung, wenn man zum Beispiel zuerst mit dem normalen Impfstoff geimpft wird und dann einen Omikron-Booster erhält. Die resultierende Immunantwort wäre vermutlich sehr breit und würde viele Varianten abdecken – vielleicht sogar andere, verwandte Sarbecoviren.
  2. Es könnte sich auch in Richtung saisonaler Influenza entwickeln, wo man eben teilweise Probleme hat, aufgrund des bestehenden Imprintings beziehungsweise eben wegen des von Ihnen beschriebenen OAS-Effekts eine gute Immunantwort gegen den neuen Stamm aufzubauen, und das Immunsystem stark auf nicht schützende, aber konservierte Epitope fokussiert.

Ich halte momentan das erste Szenario für sehr wahrscheinlich. Aber auch nach 80 Jahren Forschung verstehen wir das Original-Antigenic Sin-Phänomen bei Influenza immer noch nicht gut. Und was Sars-CoV-2 betrifft, müssen wir noch viel lernen. Imprinting/OAS ist bei Influenza nicht immer nur negativ, das kann auch positive Effekte haben – das hat auch Thomas Francis Jr. so in seiner ersten Publikation beschrieben.

Keiner der Totimpfstoffe kommt vor Mitte 2022 auf den Markt.
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Frage per Mail: Ich bin mir wegen der RNA-Impfstoffe unsicher. Macht es Sinn, auf die Totimpfstoffe zu warten?

Antwort: Grundsätzlich gibt es im europäischen Zulassungsprozess für Impfstoffe zwei Stufen. In der ersten ("rolling review") können Hersteller von Impfstoffen Daten und Ergebnisse an die Behörde liefern, auch wenn der Impfstoff noch nicht fertig entwickelt ist, das macht dann am Ende die Zulassung schneller. Der Antrag für die zweite Stufe ("conditional marketing authorisation application") muss dann alle Daten für die Zulassung enthalten. Nachdem die Behörde das Datenpaket erhalten hat, kann es innerhalb von Wochen bis Monaten zu einer Zulassung kommen.

Was "traditionelle" Impfstoffe betrifft, befindet sich ein Impfstoff von Novavax momentan in der zweiten Stufe. Es handelt sich dabei um keinen Totimpfstoff, sondern einen rekombinanten Proteinimpfstoff (wie HPV oder Hepatitis B), der mit einem Adjuvant (Matrix-M, ein Saponin, das aus dem Seifenrindenbaum in Chile gewonnen wird) verabreicht wird. Dieser Impfstoff könnte noch heuer zugelassen werden, und die EU hat 200 Millionen Dosen bestellt. Momentan wird der Impfstoff nur in Indonesien verwendet. Die Herstellerfirma ist US-amerikanisch, aber in den USA wurde noch kein Zulassungsantrag gestellt. Die US-Behörde bezweifelt nämlich, dass der Impfstoff in großen Mengen in der nötigen Qualität hergestellt werden kann. Also, grundsätzlich ein guter Impfstoff, gute Daten aus Phase 3 (ähnlich wie Pfizer und Moderna), aber unklar, ob der heuer noch kommt und, wenn ja, ob geliefert werden kann beziehungsweise ob man den leicht kriegt.

In der ersten Stufe befinden sich momentan ein weiterer rekombinanter Proteinimpfstoff (von Sanofi), ein viraler Vektorimpfstoff (Sputnik) und ein chinesischer Totimpfstoff (Sinovac). Keiner dieser Impfstoffe kommt wahrscheinlich vor Mitte 2022 auf den Markt, bei Sputnik und Sinovac ist es unklar, ob die Hersteller die Daten, die die Behörde braucht, überhaupt liefern können.

Dann gibt es noch den Totimpfstoff von Valneva, einer österreichisch-französischen Firma. Der Impfstoff wird mit zwei Adjuvantien (Alum und CPG 1018) verabreicht und hat ganz gute Daten in Phase 3 – aber meiner Meinung nach nicht so gute wie Pfizer und Moderna. Allerdings ist der Impfstoff erst seit letzter Woche in Stufe 1, kommt also wahrscheinlich nicht vor Mitte 2022.

So, jetzt meine Meinung: Warten hat keinen Sinn. Der Winter wird hart, was Infektionen betrifft, und realistischerweise wird keiner der obengenannten Impfstoffe schnell verfügbar sein. Aber da kommt noch etwas dazu: All diese Impfstoffe zeigen in Phase-3-Studien keine schweren Nebenwirkungen, was gut ist. Allerdings wissen wir von Johnson & Johnson, Astra Zeneca, Moderna und Pfizer, dass es zu sehr, sehr seltenen Nebenwirkungen kommen kann. Mittlerweile haben Milliarden Menschen diese Impfstoffe bekommen, und wir kennen uns damit sehr genau aus. Wir wissen, was schiefgehen kann, und wir wissen, wie selten das der Fall ist.

Das kann man von den neuen Kandidaten noch nicht sagen. Die sind zwar auch sicher in Phase 3 und wahrscheinlich gute Impfstoffe, aber es kann da dann genauso zu sehr seltenen Problemen kommen, die man eben erst detektiert, wenn schon Millionen Menschen geimpft sind. Aus diesem Grund, und weil sie sehr gut funktionieren, haben die mRNA-Impfstoffe von Pfizer und Moderna meinen Vertrauensvorschuss.

Haben Sie Fragen an Florian Krammer?

Was beschäftigt Sie derzeit rund um Corona, die Impfung und das virologische Geschehen? Welche Frage wollten Sie schon immer den Virologen und Impfstoffforscher fragen? Ausgewählte Fragen aus dem Forum werden wöchentlich von Florian Krammer beantwortet. (Judith Wohlgemuth, 7.12.2021)