Gefährdet die Regierung mit den offenen Schulen die Gesundheit der Jüngsten und den Erfolg im Kampf gegen die Pandemie? Oder wären die Kollateralschäden verordneter Isolation weit größer?
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FÜR

Auf den ersten Blick wirkt die Statistik beruhigend: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die wegen Covid ins Spital müssen, ist im Vergleich mit den Erwachsenen verschwindend gering.

Diese Rechnung sei aber irreführend, sagt Michael Wagner. "Kinderärzte weisen darauf hin, dass die Krankheitslast bei Covid-19 höher ist als bei allen anderen gewöhnlichen Kinderkrankheiten, gegen die wir unsere Kinder impfen", meint der Mikrobiologe, der sich intensiv mit dem neuartigen Coronavirus auseinandersetzt und allen Eltern empfiehlt, ihre Kinder impfen zu lassen.

Es sind nicht zuletzt zwei Folgeerkrankungen, die Covid-19 für Kinder bedrohlich machen. Die erste ist Pims, eine Entzündungserkrankung, die verschiedene Organe von Haut über Herz bis Lunge erfassen kann. An ihr erkranken, so wird aktuell geschätzt, eines von 3.000 bis 5.000 infizierten Kindern. In Deutschland sind seit März 2020 468 Fälle erfasst, in Österreich, so Thomas Müller, Direktor der Innsbrucker Kinderklinik, gab es vor der vierten Welle etwa 50 registrierte Fälle.

Die zweite Erkrankung ist Long Covid, das auch bei Erwachsenen bekannt ist und noch Monate nach der Infektion etwa Erschöpfung, Gedächtnis- oder Konzentrationsstörungen hervorrufen kann. Müller schätzt, dass eine Gruppe im sehr niedrigen einstelligen Prozentbereich der infizierten Kinder Long Covid-Symptome aufweist. Selbst wenn die absoluten Zahlen gering scheinen: Sie werden in den nächsten Wochen wohl steigen. Bei der aktuellen Sieben-Tage-Inzidenz von über 2.000 in der Altersgruppe der Fünf- bis 14-Jährigen führen auch geringe Prozentsätze zu hohen absoluten Zahlen – und Pims als auch Long Covid machen sich erst Wochen nach einer Infektion bemerkbar.

"Die aktuellen Pims-Fälle scheinen manchen belanglos, dabei ist das eine lebensbedrohliche Krankheit. Aufgrund der hohen Inzidenzen bei Kindern in der vierten Welle ist hier mit einem deutlichen Anstieg der Fälle in den nächsten Wochen zu rechnen", warnt Wagner. Zusätzlich ist jedoch vieles noch unerforscht. So bleibt unklar wie lange an Long Covid erkrankte Kinder von dieser chronischen Krankheit betroffen sein werden und ob Sars-CoV-2 wie viele andere Viren auch noch andere Spätfolgen nach sich ziehen kann. So ist die Gürtelrose eine Nachfolgeerkrankung der Feuchtblattern, und manche humane Papillomviren lösen als Spätfolge in seltenen Fällen Krebs aus. Aufgrund der Unsicherheit über die Eigenschaften der Omikron-Mutante sei es außerdem der schlechteste Zeitpunkt, um eine weitere Verbreitung zuzulassen, so Wagner. Und nicht zuletzt sei auch die epidemiologische Ebene bei Kindern mit zu bedenken: "Natürlich verbreiten Kinder auch das Virus."

Man dürfe die Schulen keinesfalls schließen, weil dann all die jungen Menschen, die sich bis vor kurzem noch gar nicht impfen lassen konnten, die Rechnung für die erwachsenen Impfverweigerer bezahlen müssten, wird gerne argumentiert. Eine besonders hohe "Rechnung" zahlen nun aber jene, die trotz ihres jungen Alters schwere Schäden von einer Erkrankung davon tragen. Eine kurzzeitige Schließung der Schulen mit den notwendigen Begleitmaßnahmen könnte den Preis geringer ausfallen lassen. (Levin Wotke, 30.11.2021)

WIDER

Ja, es gibt Kinder, die schwer an Corona erkranken. Doch so tragisch einzelne Schicksale auch ausfallen: Die Statistik zeigt, dass diese Gefahr für Minderjährige verhältnismäßig gering ist. Von Jahresbeginn bis Ende September mussten von 85.415 registrierten Covid-Fällen unter 20 Jahren 713 ins Krankenhaus, das sind 0,8 Prozent. Nur 63, also 0,07 Prozent, landeten in einer Intensivstation. Zum Vergleich: Bei den 50- bis 59-Jährigen beträgt die Hospitalisierungsrate trotz höherer Durchimpfungsrate 6,9 Prozent, bei den 70- bis 79-Jährigen gar 29 Prozent.

Weniger dramatisch als befürchtet greife auch die Multiorgan-Entzündung Pims um sich, berichtet der Kinderarzt Volker Strenger von der Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) . Zu Jahresbeginn habe man berechnet, dass eines von 1.000 Kindern mit detektierter Sars-CoV-2-Infektion wegen dieser Spätfolge ins Spital müsse, "seit September hatten wir in Österreich aber insgesamt vielleicht zehn Pims-Fälle."

Einzuordnen gilt es ebenso das Risiko von Long Covid. Laut einer ÖGKJ-Studie berichten elf Prozent der ehemals infizierten Kinder noch vier Wochen von zumindest einem Symptom, nach drei Wochen sind es noch sechs Prozent. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden: Es ist schwer festzustellen, ob Phänomene wie Abgeschlagenheit, Kopfweh oder Konzentrationsstörungen wirklich auf die Infektion zurückzuführen sind. All das kann auch andere Ursachen haben – etwa Einsamkeit in Folge geschlossener Schulen.

Corona sei aktuell gar nicht die größte Sorge in den Kinderabteilungen, konstatiert Strenger. Laut Daten der Gesundheit Österreich GmbH (Gög) kamen von Juni bis Ende September 217 Minderjährige mit Covid ins Spital – gleich 384 Patienten hingegen litten unter dem RS-Virus, einer Atemwegserkrankung. "Wegen dieser Infektion", sagt der Arzt, "kam aber noch nie jemand auf die Idee, Schulen zu schließen".

Doch abgesehen vom Schutz der Kinder: Geht es nicht auch darum, die vierte Welle in der gesamten Gesellschaft einzudämmen? Schließlich können Schülerinnen und Schüler Corona in die Familien weitertragen. Das hieße, die anderen gesundheitlichen Folgen für die Leidtragenden zu ignorieren, wenden Schließungsgegner wie Strenger ein: Denn die verordnete Isolation gefährde Kinder und Jugendliche mehr als das Virus an sich.

Unzählige Berichte aus der Fachwelt zeugen davon, dass Depressionen und andere psychische Probleme seit der Pandemie gerade unter jüngeren Menschen anwuchsen. Die Suizidversuche von Jugendlichen hätten sich heuer im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt, rechnete eben erst das Wiener AKH vor.

Unter Stress geraten auch Eltern. Wer arbeiten muss, den können kleinere Kinder zuhause in den Wahnsinn treiben – doch solange die Schulen, wie in den letzten Lockdowns üblich, Notbetreuung anbieten, gibt es keinen Anspruch auf Sonderurlaub. Den gäbe es bei einer radikalen Schließung, doch die würde umso größeren wirtschaftlichen Schaden anrichten. Unternehmen ginge schlicht das Personal aus.

Wunderdinge sind ohnehin keine zu erwarten. Laut dem Experten Peter Klimek bremsten Schulschließungen die Dynamik der zweiten Welle vor einem Jahr um sieben Prozent. Nun, im aktuellen Lockdown, stellte sich die Trendwende auch mit offenen Schulen ein. (Gerald John, 30.11.2021)