Nadia Jones Gailani legt den Fokus ihrer Forschung auf doppelt marginalisierte Gruppen – aufgrund ihres Geschlechts und des Nahostfokus.

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Nadia Jones Gailani hat viele Interessen: Diaspora, Transnationalismus, Gender sowie Erinnerung und Trauma stehen auf ihrer Forschungsliste. Das mag beliebig klingen, doch durch all das zieht sich ein roter Faden: das Bestreben, Geschichte durch eine bestimmte Narrativform zu erzählen. "Ich nehme Migrationsgeschichten und versuche damit transnationale Identitäten zu verstehen", sagt Jones Gailani, die an der Central European University mit neuem Sitz in Wien forscht.

Im Zentrum steht dabei das Erzählen selbst, oder Oral History, so der Fachbegriff. Für ein Projekt interviewte sie irakische Frauen, die das Land verlassen hatten. "Man kann so viel über Geschichte und Identität lernen, wenn man den Erzählungen von Frauen lauscht", sagt die Historikerin. Wie verändern sich Ideen über Zuhause und Heimat sowie die damit zusammenhängende Identität, sobald Menschen in ein anderes Land migrieren? Und wie hängt all das mit den politischen und kulturellen Veränderungen in ihrer Heimat zusammen?

Soeben ist aus diesen Fragen, die Teil ihrer Doktorarbeit waren, das Buch Transnational Identity and Memory Making in the Lives of Iraqi Women in Diaspora entstanden. "Was ich bemerkt habe, ist, dass viel davon, was es heißt, ‚irakisch‘ zu sein, Fiktion ist, die vom Staat auferlegt wurde", sagt Jones Gailani. Ihre Arbeit trage auch dazu bei, Ideen über Nationalismus zu brechen.

Aus den persönlichen Erzählungen ergeben sich oft größere Muster. Eine Frau erzählte etwa, was es bedeutet, zu einer bestimmten religiösen Minderheit im Irak zu gehören. "Diese Identität trugen viele Frauen mit sich", sagt Jones Gailani. In ihren Zufluchtsländern fanden sie in ihren ethnischen und religiösen Gemeinschaften eine Plattform, um darüber zu sprechen.

Frauen in den Fokus

Auch Jones Gailanis Zugang zu ihrer Forschung ist ein persönlicher. Ihre Familie lebt über mehrere Kontinente zerstreut, sie selbst hat eine walisische Mutter und einen irakischen Vater und zog für ihr Studium an der Universität Toronto nach Kanada – wohin wiederum ein Teil ihrer Familie nach dem Irakkrieg flüchtete. "Diaspora und Migration ist nie linear", sagt die Historikerin. Familien werden zerrissen, finden aber auch wieder zusammen.

Es ist ihr außerdem ein Anliegen, Frauen in den Fokus ihrer Forschung zu setzen: "Die Geschichten von Frauen wurden in der Geschichte viel seltener erzählt. Als marxistisch-feministische Historikerin ist es Teil meiner Aufgabe, die Geschichte von Staaten durch die Ausführungen dieser Frauen zu erzählen." Diese Art von Forschung über doppelt marginalisierte Gruppen – aufgrund ihres Geschlechts und des Nahostfokus – zu legitimieren sei aber schwierig.

Und der Kampf dauert an: 2019 verließ die Central European University Budapest, der neue Campus sitzt in Wien. Mit Grund waren auch Feindlichkeiten Ungarns gegenüber der Disziplin Gender-Studies, welche Jones Gailani und ihre Kollegen eines Tages schlichtweg nicht mehr auf der Liste der zulässigen Studienrichtungen fanden. "Es ist mir wichtig, dass Leute verstehen, dass Angriffe auf diese Disziplin nicht einzigartig sind. Wir müssen noch viel aufarbeiten." (Katharina Kropshofer, 4.12.2021)