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Das Silicon Valley hat in seiner noch jungen Geschichte schon viele bunte Vögel produziert. Jack Dorsey ist mit Abstand der schillerndste. Legendär die Marotten des ehemaligen Twitter-Chefs: das tägliche Eisbad nach dem Aufstehen. Zweimal meditieren, dafür nur eine Mahlzeit pro Tag. Am Wochenende gibt es gar nichts zu essen. Und dann natürlich Dorseys exzentrische Erscheinung: zerzaustes Haar und langer Eremiten-Rauschebart, der selbst den Alm-Öhi aus "Heidi" hätte jung aussehen lassen.

Doch all das wäre vermutlich kein Problem gewesen in einer Tech-Oase, die ihren Ursprung in der kalifornischen Flower-Power-Ära hatte und in der Friedensmärsche und Rüstungsaufträge aus dem Pentagon keinen Widerspruch darstellten. So war zum Beispiel auch Apple-Gründer Steve Jobs dafür bekannt, dass er gerne ungeduscht barfuß durch die Büros spazierte und seine Selbsterfahrungstrips nicht allein auf physische Reisen durch Indien begrenzte.

Offene Ehe

Was Twitter-Mitarbeiter und -Investoren auf die Palme brachte, war die mangelnde Aufmerksamkeit, die Jack Dorsey seinem sozialen Netzwerk schenkte. Dorsey führte mit Twitter eine Art offene Ehe. Seit seiner Rückkehr zu dem Kurznachrichtendienst widmete er einen Großteil seiner Zeit dem Bezahldienstleister Square, den er 2009 mitgründete und parallel zu Twitter als CEO leitet. Der Versuch eines Großinvestors, Dorsey zu feuern, scheiterte im vergangenen Jahr. Dennoch war der Twitter-Boss seitdem ein CEO auf Abruf.

Unter Dorseys Regentschaft hatte Twitter zahlreiche Anläufe unternommen, sich neu zu erfinden. In den letzten Jahren wurden viele Features ausprobiert, etwa die Integration einer Story-Funktion, die zuvor schon Facebook von seinem Erzrivalen Snapchat kopiert hatte. Dann experimentierte Twitter mit einem Klon des Audio-Netzwerks Clubhouse. Jüngst testete Twitter in Australien und in Kanada ein Bezahlabomodell. Doch nichts davon verfing bei den Nutzern. Während der Börsenwert von Facebook oder Google in schwindelerregende Höhen stieg, bewegte sich der Twitter-Kurs weitestgehend seitwärts.

In Washington machte sich Twitter viele Feinde, weil das Netzwerk Hassbotschaften und Fake-News verbreitete, zuletzt vor allem in Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie. Aber auch die willkürliche Sperre von einzelnen User-Accounts, darunter als prominentestes Beispiel das Konto von US-Präsident Donald Trump, brachte dem Twitter-Chef viel Ärger ein – auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Am Ende gab es nur noch wenige Menschen, die Dorsey den Rücken stärkten.

Ein Freund der Ehrlichkeit

Bei aller berechtigten Kritik an Dorsey, der es seinen Twitter-Kollegen sicherlich nicht leicht gemacht hatte, ihn und seinen unkonventionellen Führungsstil zu verstehen: Dorsey muss auch als einer der ehrlichsten Big-Tech-Bosse im Silicon Valley betrachtet werden. Bei der Kongressanhörung zum Sturm auf das US-Kapitol im Frühjahr war der Twitter-Chef neben Mark Zuckerberg von Facebook und Sundar Pichai von Alphabet/Youtube der einzige CEO, der Verantwortung für die Versäumnisse seines Netzwerks übernahm und die Politiker vor den Gefahren intransparenter Algorithmen warnte.

So viel Einsicht und Ehrlichkeit wünscht man sich von Führungskräften, die sich daran gewöhnt haben, aufgrund der zunehmenden Digitalisierung unserer Welt einsame, oft folgenschwere Entscheidungen für die gesamte Gesellschaft zu treffen, und die sich immer mehr in ihrer Rolle gefallen, Gott zu spielen. Jack Dorsey war vielleicht schräg, aber er war auch echt. Seine Milliardenspende für die Corona-Forschung war kein PR-Stunt, sondern passt zu Dorseys Lebensphilosophie. So gesehen ist am Montag der falsche Social-Media-Boss zurückgetreten. (Richard Gutjahr, 30.11.2021)