Lisa Gadenstätter zeigt in "Dok 1: Arm in Österreich" die vielen Gesichter von Armut.

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Wien – In Österreich gelten 1,53 Millionen Menschen oder 17 Prozent der Bevölkerung als armuts- und ausgrenzungsgefährdet, darunter befinden sich 350.000 Kinder und Jugendliche. 22.000 Menschen sind obdachlos. Hinter diesen nackten Zahlen stehen Schicksale und Probleme, die ganz unterschiedlicher Natur sind. Für "Dok 1: Arm in Österreich" spricht Lisa Gadenstätter mit Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, und holt Leute und Initiativen vor den Vorhang, die Unterstützung bieten – zu sehen am Mittwoch, 1. Dezember, um 20.15 Uhr in ORF1.

STANDARD: Sie sagen, dass Ihnen das Thema sehr am Herzen liegt und Sie aus diesem Grund eine "Dok 1" darüber machen wollten. Warum?

Gadenstätter: Ich habe mich mit dem Thema schon immer beschäftigt, habe schon fürs Radio oft Geschichten dazu gemacht. Und ich glaube, viele Menschen kennen das aus ihrem Bekannten- oder Familienkreis, da werden oft Geschichten erzählt von Menschen, die sich dieses und jenes nicht leisten können, weil das Geld einfach nicht reicht. Da wird erzählt, dass Kinder ihren Eltern finanziell aushelfen, damit die sich eine neue Waschmaschine kaufen können. Oder eine Zahn-OP leisten können – das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Deshalb wollte ich unbedingt eine Doku zu diesem Thema machen. Weil Armut oft so unsichtbar ist und so viele Menschen und Bereiche betrifft, wo man es nicht vermuten würde.

STANDARD: War es schwer, Leute zum Reden zu finden, da das Thema Armut ja nicht selten mit Scham verbunden ist?

Gadenstätter: Es war nicht leicht. Aber ich habe bei dieser Doku wieder mit Regisseurin Nina Dallos gearbeitet – wir haben zusammen auch die Analphabeten-Doku gemacht. Und sie hat da großartige Arbeit geleistet. Bei den Gesprächen ist es mir immer wichtig, dass sich die Menschen wohlfühlen. Es kostet so viel Überwindung, sich vor eine Kamera zu setzen und diese Geschichten zu erzählen. Und ich bin meinen Interviewpartnerinnen und -partnern sehr dankbar für ihr Vertrauen und ihre Offenheit, weil ich es so wichtig finde, dass darüber gesprochen wird.

STANDARD: Welche Rolle spielt Altersarmut?

Gadenstätter: Altersarmut ist ein großes Thema. Es betrifft so viele Menschen, die sich nicht trauen, darüber zu sprechen. In der Sendung spreche ich mit der 72-jährigen Anita. Frauen sind grundsätzlich öfter von Altersarmut betroffen als Männer. Weil sie in Karenz sind, weil sie halbtags arbeiten, weil sie oft nicht angestellt werden. 145.000 Frauen in Österreich trifft das. Anita erzählt sehr gut, wie es ihr damit geht und wie sich ihr Leben umgestellt hat, welche Träume sie als junges Mädchen hatte und wie die Realität jetzt aussieht. Aber: Sie ist eine sehr hoffnungsvolle Frau. Überhaupt sind alle meine Interviewpartner trotz ihrer Situation die meiste Zeit hoffnungsvoll. Das ist sehr schön zu sehen.

STANDARD: Wie hat sich die Lage durch Corona noch verschärft? Vor allem auch in puncto Bildung oder Ausbleiben von sozialen Kontakten, die für die Psyche so wichtig sind?

Gadenstätter: Armut hat und wird sich durch Corona leider massiv verschärfen. In puncto Bildung wird die Bildungsschere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergehen. Das wird beim Homeschooling sichtbar, viele Kinder haben keinen Laptop, oder es hat sehr lange gedauert, bis sie einen zur Verfügung gestellt bekommen haben. Viele haben zu Hause auch keine Unterstützung beim Lernen. Und das Ausbleiben der sozialen Kontakte ist ein ganz problematischer Punkt, nicht nur für Kinder und Jugendliche. Aber Kinder trifft es doppelt hart: Kinder, die in Armut leben, sind häufiger isoliert, leben in schwierigen Wohnverhältnissen und können nicht einfach so ins Kino oder Schwimmbad gehen. Sie können ihre Freunde und Freundinnen auch nicht zum Geburtstag einladen, weil sie sich oft für ihre Wohnverhältnisse schämen und auch kein Geld da ist, um die anderen Kinder zu verköstigen.

STANDARD: Welche Geschichte hat Sie am meisten berührt? Was haben Sie gelernt?

Gadenstätter: Jede einzelne Geschichte hat mich berührt. Und gelernt habe ich tatsächlich viel. Mir war zum Beispiel nicht bewusst, was es heißt, wenn man nicht mobil ist, sich keinen Fahrschein für die U-Bahn leisten kann. Die Folge: Die Betroffenen bleiben immer nur zu Hause, sie treffen niemanden mehr, sie können nicht in die Arbeit fahren, sie werden isoliert. Ein Teufelskreis.

Und ich habe gelernt, genauer hinzuschauen. Letzte Woche zum Beispiel, als ich in einem Supermarkt an der Kasse gestanden bin. Ein alter Mann ist hereingekommen, zur Kassiererin gegangen und hat sie um Rabattmarken gefragt. In der Schlange hat sich sofort Unruhe breitgemacht, weil der Mann einfach so die Kassiererin und damit die Arbeit unterbrochen hat. Die Frau hat dem Mann dann einen Zettel mit Marken gegeben. Der Mann hat sie gebeten, ob er nicht noch einen haben könnte. Das war ein Moment, der mir das Herz zusammengeschnürt hat, weil ich verstanden habe, warum er das macht.

STANDARD: "Armut ist keine Schande für die Menschen, die in Armut leben, es ist nur eine Schande für die Politik in dem Lande", sagt eine Protagonistin. Stimmen Sie dem zu?

Gadenstätter: Ja, dieser Aussage kann ich zustimmen. Niemand, der arm ist, muss sich dafür genieren. Wir müssen uns schämen, dass in einem so reichen Land wie Österreich fast 1,6 Millionen Menschen armuts- oder ausgrenzungsgefährdet sind. Jedes fünfte Kind ist betroffen, in Zahlen sind das 350.000 Kinder und Jugendliche in Österreich.

STANDARD: Welche Initiativen der Politik bräuchte es? Bedingungsloses Grundeinkommen? Wohnraum wieder leistbarer machen?

Gadenstätter: Leistbarer Wohnraum ist definitiv ein Thema. Aber nicht nur die Politik ist gefordert, auch wir als Gesellschaft. Wir können nämlich auch sehr viel tun. Zum Beispiel Hilfsorganisationen unterstützen. Und: hinschauen, nachfragen und nicht einfach weitergehen. Ein Gespräch kann oft sehr viel bewirken. Jemandem zu zeigen, dass er oder sie nicht allein ist, ist oft mehr wert, als wir uns vorstellen können. Wenn man nicht spenden kann oder will, dann ist auch im Alltag sehr einfache und niederschwellige Hilfe möglich.

Ein ganz tolles Projekt ist zum Beispiel der Caffè sospeso – eine Tradition, die in Neapel entstanden ist. Wenn man einen Kaffee trinken geht, dann zahlt man einfach zwei. Einen trinkt man selbst, der andere wird gutgeschrieben, auf einer Tafel. Diesen Kaffee können sich dann Bedürftige gratis nehmen. In Österreich gibt es schon einige Kaffeehäuser, die sich diesem Trend angeschlossen haben. (Oliver Mark, 1.12.2021)