Die Weltbevölkerung und wie sie sich nachhaltig entwickeln könnte, ist der nicht gerade überschaubare Forschungsfokus von Wolfgang Lutz. Der vielfach ausgezeichnete Demograf ist derzeit Gastgeber einer internationalen Tagung zum Thema "Ursachen und Folgen von Depopulation".

"Von den Spätfolgen von Covid wird abhängen, ob die Lebenserwartung weiter ansteigt, es langsamer bergauf oder auch bergab geht", sagt Wolfgang Lutz.
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STANDARD: Laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation von vergangener Woche ist die Pandemie in den letzten Tagen zur Todesursache Nummer eins in der Region Europa geworden. In Bulgarien hat die Pandemie insgesamt bereits 0,4 Prozent der Einwohner dahingerafft (in Österreich sind es 0,133 Prozent). Wie ordnen Sie die Auswirkungen der Pandemie als Bevölkerungswissenschafter ein?

Lutz: Das ist schwierig, weil wir noch nicht genug wissen, vor allem über die Langzeitfolgen. Man weiß, dass die Lebenserwartung, wie sie auf Basis der Sterberaten in einem Kalenderjahr berechnet wird, in vielen Ländern um bis zu drei Jahre gesunken ist. Das sind aber kurzfristige Effekte. Zu Beginn der Pandemie gingen viele Kollegen davon aus, dass vor allem die ohnehin Schwachen hinweggerafft werden und es nur eine Frage des Zeitpunktes ist, wann sie sterben. Jetzt wissen wir, dass nicht nur ganz Alte sterben, sondern auch jüngere Jahrgänge betroffen sind. Entscheidend für die Zukunft ist aber, ob jene, die nicht sterben, an Langzeitfolgen leiden, ob Long Covid bleibende Schäden hinterlässt, die sich negativ auf die Lebenserwartung dieser Menschen auswirkt. Davon wird auch abhängen, ob es nach einem pandemiebedingten Einbruch wieder auf den alten Pfad von einem Zuwachs der Lebenserwartung von etwa zwei Jahren pro Jahrzehnt zurückgeht oder es langsamer bergauf oder auch bergab geht.

STANDARD: Maßnahmenkritiker behaupten oft, dass die Menschen ohnehin sterben würden und Covid-19 generell keine großen Auswirkungen habe. Was entgegnen Sie?

Lutz: Ja, jeder stirbt einmal. Es ist aber einer der größten Fortschritte der Menschheit überhaupt, dass nicht nur Kindersterblichkeit, sondern auch Sterblichkeit im Erwachsenenalter deutlich zurückgegangen ist. Wir haben heute mehr Lebensjahre, und vor allem mehr gesunde Lebensjahre. In meinem aktuellen Projekt zu Demografie und nachhaltigem Wohlbefinden haben wir einen Indikator entwickelt, der anzeigt, ob die Entwicklung in eine nachhaltige Richtung geht und wir als Menschheit Fortschritte machen. Wenn diese "guten Lebensjahre" für alle zunehmen, heißt das, es geht bergauf mit der Menschheit. Die entscheidende Frage ist also, wie die Pandemie diese guten Lebensjahre beeinflussen wird.

STANDARD: Inwiefern sind die Geburtenraten durch die Pandemie beeinflusst?

Lutz: In fast allen Industrieländern sind im Jahr 2020 und 2021 die Geburtenraten gesunken. Das hängt aber auch mit Verschiebungen des Kinderwunschs zusammen und heißt nicht unbedingt, dass die Frauen im Lauf ihres Lebens weniger Kinder haben. Eine Ausnahme sind manche Entwicklungsländer: Es gibt zwar noch keine verlässlichen neuen Daten, aber viele Berichte aus Afrika, dass durch die großflächigen Schulschließungen die Zahl der Teenagerschwangerschaften sprunghaft ansteigt. Weil das schützende Schulumfeld, das auch für Empowerment von Mädchen sorgt, wegbricht, werden alte Muster – ungeplante Schwangerschaften, frühe Heirat aus wirtschaftlicher Not – wieder aktiv. Es gibt also die Befürchtung, dass der schon länger beobachtete Geburtenrückgang in diesen Ländern wieder eingebremst wird, weil mehrere Jahrgänge durch die Pandemie nicht die gleichen Bildungschancen haben wie frühere. Diesen Zusammenhang zwischen Bildung der Frauen und Geburtenrate konnten wir bereits in der Vergangenheit belegen.

STANDARD: Obwohl die Weltbevölkerung immer noch wächst, verzeichnen viele Regionen einen Bevölkerungsschwund. Wie wird sich das auswirken?

Lutz: Der Grund für den Bevölkerungsschwund liegt am Rückgang der Geburtenraten und an Auswanderung. In Ländern wie Deutschland gibt es schon lange mehr Sterbefälle als Geburten, das vorhergesagte Schrumpfen ist aber nicht eingetreten, weil immer mehr Zuwanderer als erwartet ins Land kamen. Es kommt aber viel weniger auf die Zahl der Köpfe an, als darauf, was in den Köpfen ist. China etwa weist einen sehr starken Geburtenrückgang auf. In einer aktuellen Studie im Fachjournal "PNAS" konnten wir zeigen, dass China viel mehr in die Bildung junger Leute investiert als der Rest der Welt, sodass höhere Erwerbsbeteiligung und zugleich höhere Produktivität der besser Gebildeten diesen Rückgang ausgleichen. Trotz weniger Geburten hat China also in den nächsten Jahrzehnten keine negativen wirtschaftlichen Konsequenzen zu befürchten.

STANDARD: In Ländern Süd- und Osteuropas, die stark schrumpfen, ist das aber kaum zu erwarten?

Lutz: Dort ist der Hauptfaktor die Auswanderung, vor allem nach Westeuropa. Bulgarien ist ein Extremfall, es wird von knapp neun Millionen Einwohnern 1990 in den nächsten Jahren um ein Drittel auf sechs Millionen schrumpfen. Das ist ein großes Problem, weil es vor allem die besser gebildeten und dynamischeren Menschen sind, die ihr Land Richtung Westen verlassen und dadurch der Druck fehlt bei den dringend nötigen Reformen. Während der Lockdowns sind allerdings viele der in Westeuropa Arbeitenden oder Studierenden in ihre Heimat zurückgegangen. Die Chance sollte genutzt werden, dass die Leute im Land gehalten werden.

STANDARD: Aktuell befinden wir uns am Ende einer demografischen Phase, während der sich Geburten- und Sterberaten auf niedrigem Niveau einpendeln – was kommt danach?

Lutz: Unsere Prognosen gehen davon aus, dass die Weltbevölkerung im Laufe der 2070er-Jahre einen Gipfel erreichen wird, vermutlich knapp unterhalb der Zehn-Milliarden-Grenze, und dann zu sinken beginnt. Der Grund dafür ist, dass in einem Teil der Welt nach dem anderen die Geburtenrate deutlich unter zwei Kinder pro Frau sinkt. Die Frage ist, ob die Pandemie diesen Geburtenrückgang beschleunigt. Es sieht so aus – zumindest wenn man nach Ostasien schaut. Südkorea hat laut Daten von 2019 eine Geburtenrate von 0,8, neue Daten zeigen, dass der Wert wahrscheinlich mit der Pandemie noch einmal gesunken ist. Es wurde früher nie für möglich gehalten, dass ein ganzes Land unter den Wert eins fällt. Auch China ist auf dem besten Weg dahin. Wir versuchen, mit Modellrechnungen bis in die Jahre 2100, 2200 und 2300 zu schauen, unter der Annahme, dass die ganze Welt auf ein europäisches Geburtenniveau von 1,5 im Durchschnitt konvergiert. Je nachdem, ob die Lebenserwartung weiterhin steigt, sich bei 90 oder 120 Jahren einpendelt, steuern wir Ende des nächsten Jahrhunderts schon auf nur mehr drei Milliarden zu – eine Zahl, von der manche Ökologen sagen, dass sie ideal für den Planeten ist. Wenn diese Menschen besser ausgebildet sind, werden sie nicht nur gesünder und reicher sein, sondern sich auch an den Teil des Klimawandels, der bereits unvermeidlich ist, besser anpassen können.

STANDARD: Wird sich der Klimawandel deutlicher auf die Bevölkerung auswirken als eine Pandemie?

Lutz: Langfristig bringt der Klimawandel sicher die nachhaltigere Veränderung unserer Lebensbedingungen. Aber sowohl bei einer Pandemie als auch beim Klimawandel sind nicht alle Menschen gleich vulnerabel. Bildung ist der Schlüssel, Gefahren rechtzeitig zu erkennen und sich darauf einzustellen – das gilt für ein Virus wie für Hitzewellen und Überschwemmungen. (INTERVIEW: Karin Krichmayr, 4.12.2021)