Claudia Roth, hier auf der Berlinale 2020, managte einst die Gegenkultur-Band Ton Steine Scherben.

Foto: imago stock&people

Man muss lange zurückdenken, um sich die deutschen Grünen ohne Claudia Roth vorzustellen. Seit den 1990er-Jahren gehört die designierte Kulturstaatsministerin zu den bekanntesten Führungsfiguren ihrer Partei. Sie war EU-Abgeordnete und Fraktionschefin in Straßburg, gleich zweimal Parteivorsitzende und seit 2013 eine die AfD couragiert in die Schranken weisende Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags.

Dennoch ist der neue Posten ihr erstes Regierungsamt. In der Branche genießt die 66-Jährige Vorschusslorbeeren als jemand, dessen Biografie stark mit dem kulturellen Feld verwoben ist. Theaterwissenschaft, Regieassistenz am Landestheater Schwaben im heimatlichen Memmingen, sie hat die Kultband Ton Steine Scherben gemanagt, die einem linken Lebensgefühl der 1970er-Jahre den treffendsten Ausdruck gab (Macht kaputt, was euch kaputt macht). Roth gilt als jemand, der Kultur nicht nur aus der Proszeniumsloge oder der warmen Studierstube heraus betrachtet. Sie kennt die freie Szene und weiß, was Popkultur ist.

"Verbotenes" Milliardenressort

Ausgerechnet ein Lieblingsthema der leidenschaftlichen Außenpolitikerin fehlt im Ressortzuschnitt der "Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien", wie es amtlich heißt: Auswärtige Kulturpolitik ressortiert weiter im Außenministerium, das ihre Parteifreundin Annalena Baerbock übernehmen wird.

Der holprige Titel deutet an, dass hier etwas entstanden ist, das laut Verfassung eigentlich nicht sein darf: ein Bundeskulturministerium. Im Grundgesetz sind Bildung und Kultur ausschließlich Ländersache. Das sorgte neben manchen Nachteilen auch für eine einzigartige kulturelle Infrastruktur der alten Bundesrepublik. Nach der Wende hatte das Land plötzlich eine richtige Hauptstadt. Berlin vermarktete sich mit dem Claim "Arm, aber sexy" als Sehnsuchtsort einer Boheme aller Länder, war aber auf Dauer unfähig, die repräsentativen Kulturinstitutionen eines 80-Millionen-Einwohner-Staates zu stemmen.

1998 fasste Bundeskanzler Gerhard Schröder die verbliebenen Kompetenzen des Bundes im neuen Amt zusammen. Seine ersten Träger, der Verleger Michael Naumann und der Philosoph Julian Nida-Rümelin (beide SPD), wirkten dabei gemessen an ihren Kompetenzen irgendwie überqualifiziert.

Das änderte sich spätestens mit Monika Grütters (CDU). Sie hat in acht Jahren die Behörde zu einem Machtzentrum mit 380 Beschäftigten und einem Budget von 2,14 Milliarden Euro ausgebaut. An der "Mäzenin im staatlichen Auftrag" kamen Akteure im kulturellen Feld kaum vorbei. Ihr Hang zu einsamen Entscheidungen hat die Problemlagen in der Stadt nicht gerade vereinfacht. Ihre Nachfolgerin erbt inhaltliche Dauerbaustellen wie das HumboldtForum, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz oder eine vollkommen aus der Zeit und aus dem Budget geratene Planung für ein Museum des 20. Jahrhunderts.

Roth hatte sich schon im Wahlkampf mit harscher Kritik für die Grütters-Nachfolge positioniert. Jene sei "blind für die Lebensrealität" von Kunstschaffenden. Die Regierung betreibe im kulturellen Feld "diversity washing", beim Humboldt-Forum ortet sie "ein zunehmend unkritisches Preußenbild", dem "Einhalt geboten" werden müsse.

Wer es nicht wurde

Als das Ressort den Grünen zufiel, war Claudia Roth gesetzt. Interessanter ist vielleicht sogar, wer es nicht wurde. Nach der Wahl hätte die Mehrheit der Beobachter auf den hamburgischen Kultursenator Carsten Brosda getippt. Brosda ist Präsident des Deutschen Bühnenvereins, der mächtigen Interessenvertretung von über 430 Theatern, Opernhäusern und Rundfunkanstalten, und der wohl profilierteste kulturpolitische Denker der Sozialdemokraten.

Ein gemeinsam mit Scholz gezeichneter Beitrag in der Zeit warb noch im Wahlkampf für einen "Schulterschluss von Geist und Macht", dachte über die Folgen der Pandemie nach, die den künstlerischen Diskurs aus dem unmittelbaren Erleben in den privaten und den digitalen Raum drängte, und stellte eine große Debatte über die Rolle von Kunst und Kultur als Grundlage der Demokratie in Aussicht.

Dass die Politik "von der Kunst die Ästhetik der Differenz lernen" könne, so Brosda, lässt sich nach der Lektüre der "fünf dürren Seiten", wie die Süddeutsche Zeitung in einem ersten Scherbengericht das Kapitel Kultur und Medienpolitik des Koalitionsvertrags nennt, nun nicht mehr wirklich sagen. Die einleitenden Stabreime "von Klassik bis Comic, von Plattdeutsch bis Plattenladen" sammeln überwiegend Einzelposten grüner wie liberaler Klientelpolitik.

Hier sozialpolitische Besserstellungen fürs Prekariat, dort Stärkung der Kulturwirtschaft. Kultur ist irgendwie gut, sie ist aber vor allem der Verpflichtung auf gesellschaftspolitische Kriterien zu unterwerfen. Vor allem die "einstige kulturpolitische Großmacht SPD", so schrieb die Wochenzeitung Zeit, verabschiede sich mit dem Papier weiter vom Feld der Kultur auf Bundesebene. (Uwe Mattheiß, 1.12.2021)