Die Richterinnen und Richter am Supreme Court in Washington entscheiden in einem aufsehenerregenden Fall, der das Recht auf Abtreibung mit einem Schlag zu Fall bringen könnte.

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Es ist der Moment, auf den Abtreibungsgegner in den USA seit Jahrzehnten gewartet haben. Egal wie die Sache am Ende ausgehen wird, der Rechtsstreit, den der Supreme Court ab Mittwoch zu entscheiden hat, wird Geschichte schreiben. Selten hatte ein Verfahren, das vor dem höchsten Gericht gelandet ist, solch einschneidende und unmittelbare Konsequenzen für die Biografien von Millionen von Frauen und Mädchen im ganzen Land, sowohl für die aktuellen als auch für künftige Generationen.

Es ist ein Fall, der das grundsätzliche Recht auf Abtreibung in den gesamten Vereinigten Staaten mit einem Schlag zu Fall bringen könnte. Schon oft haben konservativ regierte Bundesstaaten versucht, die bundesweiten Regelungen für Schwangerschaftsabbrüche zu unterlaufen. So hat Texas im Sommer ein hochumstrittenes Verbot von Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche erlassen und private Tippgeber ermuntert, Verstöße über ein eigens eingerichtetes Internetportal zu melden. Das Gesetz sieht noch nicht einmal Ausnahmen im Falle einer Vergewaltigung oder bei Inzest vor.

Doch der Fall aus Mississippi, der jetzt vor dem Supreme Court zur Verhandlung steht, geht weit über die bisherigen Zeitbegrenzungen oder Ausnahmeregeln hinaus. Er stellt die Zuständigkeit des Bundes bei Schwangerschaftsabbrüchen grundsätzlich infrage. Fragen von solcher Tragweite dürften nicht zentral von übergeordneten Gerichten geregelt werden, sondern unmittelbar vor Ort von direkt gewählten Volksvertretern, so argumentieren die Abtreibungsgegner. Nichts im Verfassungstext der USA, in seiner Struktur, Geschichte oder Tradition unterstütze ein Recht auf Abtreibung, heißt es dazu in der juristischen Einlassung aus Mississippi.

Machtwort von 1973

Mit der Grundsatzentscheidung "Roe v. Wade" aus dem Jahr 1973 hat Washington einst ein Machtwort gesprochen im jahrzehntelang schwelenden Streit um die Zulässigkeit von Abtreibungen. Die US-Verfassung sieht zwar kein Recht auf Abtreibung vor, sehr wohl aber ein Recht auf Freiheit und Privatsphäre. Mit seinem Schiedsspruch vor knapp 50 Jahren hatte das Oberste Gericht Schwangerschaftsabbrüche bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, also heute etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche, landesweit erlaubt. Das Urteil wurde mit einer weiteren Supreme-Court-Entscheidung 1992 noch einmal bestätigt.

Doch durch die Nominierung neuer Richterinnen und Richter ist der Supreme Court inzwischen deutlich konservativer geworden und könnte seine früheren Urteile überstimmen. Allein unter Ex-Präsident Donald Trump wurden drei dem konservativen Lager zugeneigte Personen ernannt. Zwölf republikanisch dominierte Staaten inklusive Mississippi haben bereits Gesetze verabschiedet, die das grundsätzliche Recht auf Abtreibung aufheben. Weitere neun Bundesstaaten haben entsprechende Pläne in der Schublade, die unmittelbar nach einer Revision des früheren Urteils umgesetzt werden könnten.

"Sollte Roe aufgehoben werden, würde fast die Hälfte der Vereinigten Staaten Abtreibungen massiv einschränken, möglicherweise sogar komplett abschaffen", sagt Nancy Northup, Präsidentin des Center for Reproductive Rights, das sich für Abtreibungsrechte starkmacht.

Stiller Präsident

Ganz anders sieht das die Generalstaatsanwältin von Mississippi, Lynn Fitch. Die Entscheidung von 1973 habe die Gesellschaft "ins Chaos gestürzt", schreibt sie in einem Gastbeitrag in der "Washington Post". Das Urteil des Supreme Court habe Abtreibungsbefürworter und -gegner gegeneinander aufgehetzt und die Bundesstaaten dazu gezwungen, "kreative Umwege" zu finden, um "legitime staatliche Interessen" durchzusetzen. Es sei an der Zeit, den Fehler zu korrigieren.

Wenig hört man in dieser Debatte aus dem Weißen Haus. Joe Biden, ein gläubiger Christ, war zuletzt für seine abtreibungsfreundliche Politik von Republikanern, aber auch von Bischöfen heftig kritisiert worden.

Als Biden 1973 nach Washington kam, gab es noch viele in seiner eigenen Partei, die Schwangerschaftsabbrüche kritisch sahen. Umgekehrt fanden sich aber auch viele Republikaner, die eine liberalere Linie vertraten. Präsident Ronald Reagan nutzte die Debatte, um christliche Wähler zu mobilisieren. Seit der Präsidentschaft von Donald Trump haben sich die Fronten verhärtet. Zwischen Abtreibungsgegnern und -befürwortern verläuft inzwischen eine klare Parteilinie.

Hatte die Abtreibungsfrage im letzten Präsidentschaftswahlkampf noch keine Rolle gespielt, könnte sich das mit dem juristischen Showdown bald ändern. Das Thema hat das Potenzial zu einem emotionalen Wahlkampfschlager sowohl für die bevorstehenden Parlamentswahlen 2022 als auch zwei Jahre später beim Rennen ums Weiße Haus. Damit ist die Abtreibungsdebatte für die Parteistrategen beider Lager auch ein wichtiger politischer Stimmungstest. Mit einem Urteil des Gerichts wird nicht vor Sommer gerechnet. (Richard Gutjahr aus Washington, 1.12.2021)