Was sich abspielt im Gehirn von Autistinnen und Autisten (hier eine Ausstellung über Neuronen in Washington), wird oft missverstanden.
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In der High School wurde Elon Musk die Treppen hinabgestoßen und krankenhausreif geprügelt. Heute ist das einstige Mobbingopfer Milliardär. Bei seinem Outing in der "Saturday Night Live"-Show im Mai diesen Jahres empfand der Erfinder von Space X und Tesla Erklärungsbedarf: "Manchmal poste oder sage ich komische Sachen." Sein Gehirn funktioniere eben so. "Ich habe Elektroautos neu erfunden und schicke Menschen in Raketen zum Mars. Dachtet ihr, ich wäre ein gechillter, normaler Typ?"

Auch Greta Thunberg war kein glückliches Kind – bis sie das Klassenzimmer für den Klimakampf eintauschte und ihre Diagnose zur Wunderwaffe umfunktionierte. Asperger, schrieb die Aktivistin auf Twitter, sei ihre "Superpower". Musk und Thunberg haben eines gemeinsam: Sie sind bekennende "Aspies", wie eine liebevolle Eigendefinition von Menschen im Autismusspektrum lautet.

Im Spektrum mit Netflix & Co

Via Netflix und Co arbeitet sich die Populärkultur an der Causa ab. In "The Good Doctor" operiert Freddy Highmore erfolgreich als autistischer Chirurg, die Datingshow "Liebe im Spektrum" wird kontrovers diskutiert. Dass ein prominenter Autismusforscher der Cousin von Sacha Baron Cohen ist – Alter Ego verhaltensauffälliger Kunstfiguren wie Borat und Brüno –, ist höchstens von indirektem Unterhaltungswert. Simon Baron-Cohen aus Cambridge schuf einen Autismusquotienten, der Auskunft über die Ausprägung des Phänomens gegeben soll.

Das Asperger-Syndrom als Variante des Autismus wird als Störung der neuronalen und mentalen Entwicklung definiert. Es wurde posthum nach dem Wiener Kinderarzt Hans Asperger benannt, dessen Pionierarbeiten zum Autismus aufgrund ihres historischen Kontextes mitten in der Nazizeit vorerst ignoriert wurden – bis ihn die britische Psychiaterin Lorna Wing 1981 aus der Versenkung holte und einen Teil des Autismusspektrums nach ihm benannte.

Kontroverser Namensgeber

Aspergers Beschreibung des Phänomens anhand von Fallbeispielen von vier Buben als "kleine Professoren" ging als "Little Professor Syndrome" in den englischen Sprachgebrauch ein. Um die Benennung des Syndroms nach Asperger kreisen seit langem Kontroversen – ebenso wie um die Frage seiner Mittäterschaft. Aktuelle Studien zeigen schließlich dessen Verstrickungen in NS-Euthanasieverbrechen.

Fraglos ist, dass Engagement für Neurodiversität im Trend liegt. Das Symbol der Neurodiversitätsbewegung, ein Unendlichkeitszeichen in Regenbogenfarben, repräsentiert die große Bandbreite: Phänomene wie Autismus, ADHS und Legasthenie werden als eine natürliche Form menschlicher Vielfalt betrachtet.

Das regenbogenfarbige Unendlichkeitszeichen repräsentiert sowohl die Vielfalt des Autismus-Spektrums als auch die Breite der Neurodiversitätsbewegung.
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Die Vertreter der Bewegung wenden sich gegen eine Pathologisierung, gegen die Betonung der Dysfunktionalitäten und den Störungsbegriff. Sie fordern mit Initiativen wie dem Autistic Pride Day, der jährlich am 18. Juni begangen wird, Hinwendung zu Stärken und Förderung von Betroffenen, Empowerment und Anerkennung in der Gesellschaft.

Der britischer Psychologe Tony Attwood ist gegen die Diagnose als Krankheit. Seine These: Emotional gesteuerte "Neurotypische" lernen durch Intuition, logikgesteuerte Neurodiverse lernen durch Instruktion. Beides sei im Normbereich.

Asperger fällt als Diagnose weg

Das Klassifikationssystem der WHO bleibt freilich bei der Einordnung von Autismus als Störung. Das Diagnosemanual wird aber ab 2022 in seiner neuesten Fassung dem US-Manual folgend angepasst. Das Asperger-Syndrom fällt damit auch hierzulande als eigenständige Diagnose weg und geht im Autismusspektrum – unterteilt in vier Stufen, von sehr starker bis sehr schwacher Beeinträchtigung – auf. Statt klarer Abgrenzung und Subtypen gelten fließende Übergänge und mehr Spielraum in der Diagnostik.

Unter den in Österreich geschätzten 87.000 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus dem Autismusspektrum wird ein überwiegender Teil bei Buben und Männern diagnostiziert. Biologistische Erklärungen wollen potenzielle Schutzfaktoren durch Gene und Hormone für Frauen ausgemacht haben.

Gesellschaftsbezogene Modelle gehen davon aus, dass subtile Formen von Asperger-Autismus bei Mädchen häufiger übersehen werden. Falschdiagnosen von ADHS, Zwangsstörung oder Magersucht gehören zu den Folgen.

Wie von einem anderen Planeten

Prototypisch ist das "Wrong Planet Syndrome", das Gefühl, wie von einem anderen Planeten zu sein. Aufgrund von Blickvermeidung und verschlossener Körpersprache werden Autistinnen und Autisten als abweisend und desinteressiert wahrgenommen. Mobbing und Missverständnisse sind die Folge. Probleme, Körpersprache und Mimik anderer zu deuten, werden teils als mangelnde Einfühlung missinterpretiert.

Auch die angebliche Gefühlskälte autistischer Menschen sei ein Mythos, wie Giorgia Silani, Autismusspezialistin der Uni Wien, betont. Deren moralischer Kompass ist nicht anders, oftmals sogar höher als üblich.

Silani ist Teil des Teams der Zoologin Alice Laciny, die sich in ihrem aktuellen Forschungsprojekt dem Phänomen der Neurodiversität bei Insektenforschenden widmet. Und damit dem, was in der Wissenschaft als "Autistic Advantage" bezeichnet wird, also als ein autistischer Vorteil (siehe Interview).

Tendenz zu Spezialbegabungen

"Es scheint, dass für Erfolg in der Wissenschaft oder in der Kunst ein Schuss Autismus erforderlich ist." Das merkte nicht nur Namensspender Hans Asperger zum Phänomen an – auch die Thesen des irischen Kinderpsychiaters Michael Fitzgerald stellten einen Konnex zwischen Kreativität und Asperger her.

Neuere neurobiologische Gehirnforschungen legen nahe, dass autistische Merkmale und die Tendenz zu Spezialbegabungen miteinander verknüpft sein können. Autistinnen und Autisten entwickeln oft exzessive Interessen für bestimmte Fachgebiete.

Vermeintliche Nachteile wie ein besonders distanzierter, objektiver Blick auf die Welt oder eine Detailversessenheit können im richtigen Kontext wie der Wissenschaft so durchaus als Vorteile gelten. (Nadja Sarwat, 8.12.2021)