Magnus Carlsen rümpft die Nase.

Foto: APA/AP/Jebreili

Dubai – Maurice Ashley ist ein Showman. Der amerikanische Großmeister ist dem Schach-Publikum seit Jahren als Moderator der US-Meisterschaften in Saint Louis bekannt und steht für eine Art der Präsentation des königlichen Spiels, die sich an anderen in den USA populären Sportarten ein Beispiel nimmt. In Dubai steht Ashley nun vor jeder Partie mit dem Mikrofon in der Hand in jenem Glaskasten, in dem Carlsen und Nepomnjaschtschi den WM-Titel ausspielen, und ruft die Kontrahenten mit der Verve eines Box-Ansagers an den gescheckerten Ring.

Nur: Die Spieler kommen meist nicht, wenn Ashley ruft. Ob es sich um einen stillen Protest gegen die Form der Anmoderation, oder – zumindest im Falle Carlsens wahrscheinlicher – um pures Desinteresse handelt, ist aus der Ferne nicht feststellbar. Das wiederkehrende Bild, bei dem Ashley nach seiner stimmungsvollen Ansage wie angewurzelt stumm hinter dem Brett ausharrt, bis die Gladiatoren nach einer gefühlten Ewigkeit ans Brett schlurfen – kein Winken ins Publikum, keine angedeuteten Upper-Cuts –, hat jedenfalls etwas prononciert Tragikomisches.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 4.
Österreichischer Schachbund

Vielleicht ist es sogar sinnbildlich dafür, was bei der Präsentation von klassischem Schach in der Medienrealität des fortschreitenden 21. Jahrhunderts nicht ganz rundläuft. Einerseits lebt die "Marke" Schach-WM von ihrer 135-jährigen Geschichte, dem leicht modrigen und gerade dadurch aphrodisierenden Geruch intellektueller Tradition und unzeitgemäßer Langsamkeit. Klassische Schachweltmeisterschaften bilden einen Kontrapunkt zur Kurzlebigkeit und inflationären Sensationslogik des populären Massensports.

Zugleich ist Schach allerdings ideal dafür geeignet, es im Internet zu spielen, zu streamen und zu vermarkten. Der durch die Serie "The Queen's Gambit" geboostete Lockdown-Schachboom hat hierin seinen Ursprung. Als Resultat daraus gibt es nun mehr mediales Interesse an Schach-WMs als je zuvor, Plattformen wie chess.com werden zu offiziellen Medienpartnern und sogar Co-Organisatoren der altehrwürdigen Weltmeisterschaft. "Fighting chess", verspricht Maurice Ashley deshalb seinem Publikum vor Partie vier, bevor nach den Spielern FIDE-Präsident Dworkowitsch und ein in Weiß gewandeter Scheich für die Ausführung des symbolischen ersten Zugs ans Brett treten.

Schach statt Boxen

Das Problem ist nur: Carlsen und Nepomnjaschtschi lassen sich das Drehbuch ihrer Partien nicht vorschreiben. Während die Experten mit einem Abtasten in den Partien eins und zwei rechneten und auf mehr Action in Runde drei und vier hofften, haben die beiden den Spieß umgedreht. Nun, da sie ihren Rhythmus gefunden haben, sind Weltmeister wie Herausforderer mit den schwarzen Steinen spielend jeweils vor allem an einem interessiert: den Anzugsvorteil des Gegners so effektiv wie möglich zu neutralisieren und die Partie umstandslos in den Remis-Hafen zu steuern.

Für Jan Nepomnjaschtschi bedeutet diese bei Weltmeisterschaften seit eh und je populäre Matchstrategie eine Kehrtwende im Vergleich zu seinem bisher gewohnten Stil. Statt asymmetrischer Verteidigungen mit Konterpotenzial hat sich der Russe für Dubai offenbar grundsolide – manche würden sagen: trockene – Defensivsysteme zurechtgelegt, die Carlsen keinen Ansatzpunkt für ein Spiel auf Vorteil liefern sollen. Die Erwartungshaltung an ihn, Nepo müsse seine Chance gegen Carlsen in zwielichtigen taktischen Handgemengen suchen, ist dem Herausforderer augenscheinlich ziemlich powidl.

Ganz in diesem Sinne überrascht er seinen Gegner in Partie vier mit der Russischen Verteidigung, nachdem Carlsen zunächst seinerseits durch den Wechsel von 1.d4 auf 1.e4 eine kleine Überraschung angebracht hat. Gegen den größten lebenden Russisch-Experten Fabiano Caruana hatte der Weltmeister bereits 2018 in London weniger als nichts aus der Eröffnung herausgeholt. Insofern ist die Wahl des Herausforderers logisch – zumal dann, wenn die Vermutung des mitkommentierenden Caruana zutrifft. Der meint, Nepomnjaschtschi wolle Carlsen Partie für Partie anrennen lassen, um den Norweger zu frustrieren, dessen Laune unter langen Remisserien bekanntermaßen leidet. Das Anrühren russischen Betons wäre dafür freilich das Mittel der Wahl.

Von "Fighting Chess" und Blutspritzern auf dem Brett kann zum Leidwesen der Schach-Promoter an diesem Dienstag in Dubai jedenfalls nicht die Rede sein. Carlsen wählt gegen Nepos Russisch die alte, symmetrische Hauptvariante und versucht nach frühem Damentausch Vorteil in einem nur scheinbar simplen Endspiel herauszuarbeiten. Aber wie Carlsen in Partie drei zeigt sich diesmal der Herausforderer perfekt für die entstehende Stellung und ihre Motive präpariert. Der Freibauer auf der a-Linie, den der Russe sich verschafft, wiegt gerade so die bedrohlich wirkende Initiative gegen den schwarzen König auf, die Carlsen mit einem dynamischen Turm-Springer-Duo entfaltet.

Viele herrliche Tricks und Mattüberfälle hielte die Stellung nun bereit. Die schwarze Verteidigungsaufgabe ist alles andere als trivial, ein einziger Fehltritt würde die sofortige Niederlage bedeuten. Aber Jan Nepomnjaschtschi ist der Herausforderung gewachsen, auf die er sich monatelang mit seinem Team vorbereitet hat. Seelenruhig schiebt der Schwarze seinen Randfreibauern Feld für Feld nach vorne und zieht damit die Aufmerksamkeit der weißen Figuren vom schwarzen Königsflügel ab.

Ein insgesamt fast einstündiges Abtauchen Carlsens in das Land der inneren Variantenberechnung überzeugt den Weltmeister schließlich davon, dass hier und heute nicht mehr als ein Remis für ihn drin ist. Mit seinem 30. Zug leitet der Norweger ein Dauerschach ein, das zu dreimaliger Stellungswiederholung und dem regelkonformen Friedensschluss führt.

Vier Remis zu Beginn einer Schach-WM sind per se nichts Besorgniserregendes, Nachrichten vom Ableben des klassischen Schachs erscheinen jedenfalls (wieder einmal) stark übertrieben. Lange zurückliegende WM-Kämpfe aus der goldenen Ära des Spiels waren teils durch lange, manchmal schier endlose Remisserien geprägt: weil mitunter besonders wenig riskiert wird, wenn besonders viel auf dem Spiel steht. Damals las man die Züge allerdings auch erst am nächsten oder gar übernächsten Tag in der Zeitung, WM-Partien als audiovisuelles Live-Event gab es noch nicht – und auch keine Ringansager, die dem Publikum Tag für Tag Gewaltiges versprechen.

Es steht 2:2. Am Mittwoch führt der Herausforderer die weißen Steine. (Anatol Vitouch, 30.11.2021)