Bild nicht mehr verfügbar.

Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) sprach von einem "mutigen Schritt", der nötig gewesen sei.

Foto: REUTERS / LISI NIESNER

Gegner des Projekts demonstrierten vehement gegen den Tunnel unter dem Nationalpark.

Foto: Imago

Im September protestierte Greenpeace gegen das Bauprojekt in der Lobau mit einem Plakat am Wiener Rathaus sowie vor dem Büro des Bürgermeisters.

Foto: David Pimperl / Greenpeace

Der heftige Wind, der Wien am Dienstag heimsuchte, hat sich zwar über die Nacht gelegt. Dennoch zog am Mittwoch in der Hauptstadt gleich die nächste Sturmfront auf: Es gab Jubelstürme auf der einen Seite – und einen Sturm der Entrüstung auf der anderen. Denn Verkehrs- und Umweltministerin Leonore Gewessler von den Grünen hat den Bau des umstrittenen Lobautunnels – ein Milliardenprojekt im Spannungsfeld von Verkehr, Klimaschutz und Stadtplanung – am Mittwoch offiziell gestoppt.

Tunnelprojekt im Spannungsfeld von Verkehr, Klimaschutz und Stadtplanung

Dieses Resultat habe die Evaluierung des Asfinag-Bauprojekts durch das Ministerium und externe Expertinnen und Experten des Umweltbundesamts ergeben. Das Projekt, das seit knapp 20 Jahren geplant wird, wird nicht weiterverfolgt, wie es nach dem sogenannten Klimacheck in einer Medieninformation heißt.

Bei der Pressekonferenz begründete Gewessler die Entscheidung folgendermaßen: Im Jahr 2021 könne man nicht mehr "mit gutem Gewissen" sagen, man baue eine Straße durch ein Naturschutzgebiet. Sie wolle in 20 oder 30 Jahren nicht zurückschauen müssen und erkennen: "Mir hat der Mut gefehlt." Man müsse Entscheidungen treffen, die auch dann noch vernünftig sind. "Ich will nicht draufkommen, dass wir den Kindern die Zukunft verbaut haben." Erstmals werde "nicht einfach so weitergemacht wie bisher". Welche Infrastruktur man heute baue, um gut mobil sein zu können, sei die eine Frage, aber es gelte auch, die Natur und die Artenvielfalt zu schützen.

Neben Kriterien wie der Verkehrssicherheit, der Verkehrsplanung sowie wirtschaftlichen und regionalen Bedürfnissen sei bei der Evaluierung "auch der Schutz von Klima und Umwelt im Zentrum" gestanden, hieß es dazu in der Medieninformation. "Wenn wir heute falsche Entscheidungen treffen, werden nicht nur Milliarden an Steuergeld vergraben, sondern auch die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder verbaut."

Von allen untersuchten Straßenbauprojekten hat die Lobauautobahn laut der Evaluierung den höchsten Bodenverbrauch ausgewiesen. Zudem seien "massive Eingriffe in die unberührte Artenvielfalt zu erwarten".

Kein Autobahnring um Wien

Mit der Entscheidung Gewesslers steht fest, dass es auch keinen Autobahnring um Wien geben wird. Denn zur Vollendung dieses Projekts hätte nur noch das 19 Kilometer lange S1-Teilstück zwischen Schwechat und Süßenbrunn gefehlt – samt dem 8,2 Kilometer langen Lobautunnel. Insgesamt wäre der Autobahnring um Wien 195 Kilometer lang gewesen, er reicht bis nach St. Pölten.

Ludwig: "Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen"

Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) führt seit Jahren die Notwendigkeit der S1-Nordostumfahrung für die Stadt als Teil einer Verkehrsentlastung ins Treffen. Der Stadtchef hatte bereits im Vorfeld der Entscheidung angekündigt, bei einem Aus für den Tunnel juristische Schritte einzuleiten.

Am Mittwoch sagte Ludwig in einer ersten Stellungnahme: "Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen." Er kritisierte hörbar erregt die Absage massiv und sprach von einem "Schlag gegen die Lebensqualität". Ohne S1-Nordostumfahrung gebe es "mehr Stau, mehr Abgase" in der Stadt.

Mangelnde Transparenz, keine Alternative

Ludwig monierte zudem mangelnde Transparenz bei der Entscheidungsfindung Gewesslers. Und er kritisierte, dass sie den Lobautunnel zwar beerdigt, aber keine Alternative angeboten habe. "Wenn wer eine gute Idee hat: herzlich willkommen. Nur, warum ist diese bis jetzt noch nicht geäußert worden?", sagte der Bürgermeister.

Auch mit dem Lobautunnel sei "die Lobau als Naturschutzgebiet in keinster Weise gefährdet". Der Tunnel passiere den Nationalpark in 60 Meter Tiefe – und sei genau deshalb entwickelt worden. Ursprünglich sei laut Ludwig ja angedacht worden, eine Brücke an der schmalsten Stelle des Nationalparks zu errichten. Diesen Plan habe man verworfen.

Er habe die gesamten Evaluierungsergebnisse des Ministeriums erst Mittwochvormittag erhalten, so Ludwig. Nach einer Prüfung durch Juristen werde man "entsprechende Schritte setzen". Näher erläuterte Ludwig das vorerst nicht. Er zeigte sich aber entschlossen, die Entscheidung rechtlich zu bekämpfen.

Land Niederösterreich unterstützt rechtliche Schritte Wiens

Unterstützung erhält Ludwig dabei vom Nachbarbundesland, das von der Entscheidung ebenfalls massiv betroffen ist. "Das Land Niederösterreich wird mögliche rechtliche Schritte der Stadt Wien in Sachen S1 unterstützen", kündigte Landesrat Ludwig Schleritzko (ÖVP) an.

Wiener Neos sprechen von "richtiger Entscheidung"

Die Neos, Koalitionspartner von Ludwigs SPÖ in Wien, zeigten sich hingegen erfreut. Damit zeichnet sich auch ein veritabler Koalitionsstreit in der Hauptstadt ab. Denn die pinke Klubobfrau Bettina Emmerling sprach von einer "erwartbaren und richtigen Entscheidung". Die Neos verwiesen darauf, dass sie das Projekt immer kritisch gesehen hätten. Nötig sei ein Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Emmerling forderte "alle Beteiligten auf, jetzt rasch zu handeln, statt nachhaltige Lösungen durch Rechtsstreitigkeiten über Jahre zu verzögern". Damit kritisierte sie indirekt auch die von Ludwig in den Raum gestellten Klagen.

Eine Alternative für den Lobautunnel konnte Gewessler vorerst tatsächlich nicht bieten. Laut einer Medienunterlage kündigte sie aber an, gemeinsam mit der ÖBB "den Ausbau der S-Bahn rasch voranzutreiben".

Auch Nordabschnitt wird nicht in geplanter Form umgesetzt

Die noch fehlende S1-Nordostumfahrung Wiens umfasst zwei Abschnitte: den südlichen Teil ab Schwechat inklusive Tunnel – und einen nördlichen Teil von Groß-Enzersdorf bis Süßenbrunn. Auch dieser Nordteil wird aufgrund der Entscheidung gegen den Lobautunnel sowie wegen der laufenden Verfahren zur S8 (Marchfeld-Schnellstraße) nicht wie geplant errichtet. Damit sind die geplanten Straßenbauvorhaben im Nordosten Wiens völlig offen. Hier heißt es praktisch: zurück an den Start.

S1-Spange möglicherweise ins Nirgendwo

Skurril mutet aber an, dass die S1-Spange von der Seestadt Aspern in Richtung Osten vom Bund gebaut werden könnte. Diese sollte eigentlich das Stadtentwicklungsgebiet mit der S1-Nordostumfahrung verbinden. Dieses Ziel ist mit dem Aus für den Tunnel freilich obsolet geworden.

Laut Verkehrsministerium muss die S1-Spange dennoch gebaut werden, falls die Stadt Wien die ebenfalls umstrittene Stadtstraße von der Tangente (A23) bis zur Seestadt Aspern errichtet – denn auch die S1-Spange ist eine Voraussetzung dafür, dass zahlreiche Wohnprojekte in dem Stadtentwicklungsgebiet überhaupt gebaut werden dürfen.

Das könnte also rein rechtlich dazu führen, dass die S1-Spange errichtet werden muss – und vorerst im Nirgendwo endet, weil die weiteren Straßenplanungen für den Nordteil der S1 nunmehr völlig offen sind. Dieses Szenario wäre freilich an Lächerlichkeit nicht zu überbieten. Ludwig selbst sprach von "Pflanzerei" und einer Stadtstraße, die dann im Nirwana ende – sollte es keinen S1-Nordteil geben. Die Stadtstraße selbst würde Wohnungen für 60.000 Personen in der Donaustadt verbinden und brauche einen weiteren Straßenanschluss.

Die Umweltministerin erklärte, dass die Positionen Ludwigs "gehört wurden" und in das Ergebnis der Evaluierung eingeflossen seien. Sie unterstütze auch das Vorhaben, "guten und leistbaren Wohnraum" zu schaffen. Wenn sich die Stadt Wien für die Errichtung der Stadtstraße ausspreche, werde man sich um die Anschlüsse kümmern.

Heftige Kritik vorprogrammiert

Nach der Verkündung der Entscheidung ist weitere heftige Kritik von Befürwortern des Tunnelprojekts programmiert. Denn die Positionen der Fürsprecher und der Bekämpfer des Projekts sind seit Jahren bezogen. Auf der einen Seite findet sich – auch wenn die Motive verschieden sind – eine seltene wie mächtige Allianz aus SPÖ, ÖVP, FPÖ, Wirtschaftskammer und ÖAMTC für den Tunnelbau. Neben Wiens Stadtchef Ludwig hat auch Verkehrsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) weitere Schritte angekündigt, sollte es zu einem Stopp der S1 kommen. Laut Sima wird es in diesem Fall auch "Schadenersatzforderungen" geben.

Gegen den Lobautunnel sind vor allem die Grünen, zahlreiche Umweltschutzorganisationen und – etwas zaghaft – die Neos aufgetreten. Auch die Wiener SPÖ-Jugend sprach sich gegen den Tunnelbau aus.

Die Evaluierung des gesamten Asfinag-Bauprogramms hat nicht nur massive Auswirkungen auf die Lobauautobahn, sondern auch auf andere Straßenprojekte.

S34 Traisental-Schnellstraße: Diese wird "in der geplanten Form nicht weiterverfolgt". Das Ministerium will "gemeinsam mit dem Land Niederösterreich rasch bessere Alternativen erarbeiten".

S8 Marchfeld-Schnellstraße: Die bis dato geplante Route weist laut Ministerium einen hohen Bodenverbrauch auf und verläuft unter anderem durch das Brutgebiet des streng geschützten Triels. Für das Ministerium ist unsicher, "ob das Projekt in der bestehenden Form überhaupt rechtskonform realisiert werden kann". Das Ministerium will "rasch die Prüfung von besseren Alternativen vorantreiben". (David Krutzler, 1.12.2021)