Im Gastkommentar wundert sich der Ökonom Kurt Bayer über das fehlende volkswirtschaftliche Fachwissen der Finanzminister und darüber, dass das Finanzministerium zur "Erbpacht der konservativen ÖVP" geworden ist.

FDP-Chef Christian Lindner wird Finanzminister der neuen deutschen Bundesregierung. Olaf Scholz, der künftige Kanzler und bisherige Finanzminister, hat auf dieses Ministerium verzichtet. Lindner hat unter anderem durchgesetzt, dass ab 2023 die "Schuldenbremse" (im Verfassungsrang), die während der Corona-Krise ebenso wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt auf EU-Ebene ausgesetzt war, wieder greift. Auch Steuererhöhungen schließt er für die Legislaturperiode aus. Read his lips!

Christian Lindner hat sein Wunschressort bekommen. Der Liberale wird neuer deutscher Finanzminister.
Foto: EPA / Clemens Bilan

In Österreich hat erstmals Kanzler Alfred Gusenbauer bei der Aufteilung der Ministerinnen- und Ministerposten freiwillig auf das Finanzministerium verzichtet. Seither scheint es Erbpacht der konservativen ÖVP geworden zu sein, mit den wirtschaftspolitischen Laien Wilhelm Molterer, Josef Pröll, Maria Fekter, Michael Spindelegger, Hans Jörg Schelling, Hartwig Löger und nunmehr Gernot Blümel in diesen Rollen. Deren wirtschaftspolitische Kompetenz, deren Einfluss in der Gestaltung der EU-Politik gehen über ein Nachahmen des wirtschaftspolitisch reaktionären Deutschland und die kürzliche unrühmliche Mitwirkungsrolle bei den "Geizigen Vier" (Frugal Four) bei der Ausgestaltung des EU-Wiederaufbaufonds nicht hinaus. Bei den letzten Regierungsverhandlungen haben auch die Grünen auf eine Mitwirkungsrolle im Finanzministerium in Gestalt eines Staatssekretärs (zugunsten wovon?) verzichtet.

Starkes Ressort

Die Spatzen pfeifen von den Dächern, dass neben dem Bundeskanzleramt das Finanzministerium das politisch und gestalterisch weitaus wichtigste Ministerium ist. In großen Ländern ist vielleicht noch das Außenministerium an Bedeutung gleichzusetzen, in kleinen wie Österreich, wo es seit Jahren keine außenpolitische Strategie, geschweige denn Initiativen gibt, bleibt das Finanzministerium Regens inter Pares (Herrschender unter Gleichen). Es sitzt auf der staatlichen Geldbörse, kann Initiativen der Fachministerien fördern oder abdrehen, hat eine Verhandlungsmacht, die über jene des Regierungschefs, der in Österreich mangels Richtlinienkompetenz nicht über die Ministerien bestimmen kann, hinausgeht.

Die Grüne Agenda, die Aufrechterhaltung und Anpassung des Sozialstaates (Pflegereform, Armutsbekämpfung, Gesundheitssystem), das überalterte Bildungswesen, der Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, die EU-Wirtschafts- und Sozialpolitik – all diese Bereiche erfordern Geld, vor allem aber inhaltliche Initiativen und Strategieführung durch das Finanzministerium. Dieses ist in Österreich inhaltlich zunehmend ausgedünnt worden, vor allem durch die immer weiter gehende Trennung zwischen (kompetenter) Beamtenschaft und der "politischen Ebene", also den immer größer werdenden parteipolitisch bestimmten Kabinetten und den große Macht ausübenden Generalsekretären. Beamtinnen und Beamte werden nicht mehr als Beraterinnen und Berater des Ministers gesehen, nicht mehr zu entscheidenden Besprechungen beigezogen, sondern in die Rolle von Zuarbeitenden ohne direkten Kontakt zum Minister "degradiert".

"Bestenfalls sind hanebüchene Mantras wie ,Der Staat kann nicht mehr ausgeben als er einnimmt, nach dem Beispiel der schwäbischen Hausfrau' in den Köpfen präsent."

Es scheint den Linken, Grünen und Alternativen, die in Regierungsverantwortung kommen, nicht klar zu sein, dass neben dem "Erbsenzählen" der Budgeterstellung die makroökonomische Fiskalpolitik gemeinsam mit der Geldpolitik, die in die Europäische Zentralbank zentralisiert für die gesamte Eurozone ausgelagert ist, eine ungeheuer wichtige Rolle für das wirtschaftliche und gesellschaftliche Wohlergehen des jeweiligen Landes, der EU und Eurozone spielt.

Die mangelnde volkswirtschaftliche Kompetenz aller Finanzministerinnen und Finanzminister seit dem Abgang von Ferdinand Lacina (1995!) hat Makropolitik in Österreich als wichtiges Politikfeld verkümmern lassen. Bestenfalls sind hanebüchene Mantras wie "Der Staat kann nicht mehr ausgeben als er einnimmt, nach dem Beispiel der schwäbischen Hausfrau" in den Köpfen präsent. Dass die Fiskalpolitik eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Gesamtnachfrage hat, dass die Fiskalpolitik im Gegensatz zur Geldpolitik, differenziert in einzelne Sektoren (Grüne Agenda, Steuergestaltung, Pflegefinanzierung) eingreifen kann, scheint nicht bekannt.

Und die Makropolitik?

Auch wenn die Verantwortung für wichtige grüne Ministerien bedeutend für die Wählerschaft der Grünen, die Verantwortung für den Arbeits- und Sozialbereich wichtig für jene der Sozialisten ist – und sie daher ihr Augenmerk auf die Zuteilung dieser Ministerien gelegt haben –, machen sie alle den schweren strategischen Fehler, die Finanzministerien alten Konsolidierungsdogmen und den Privatsektor, sprich die Unternehmen ("Mehr privat, weniger Staat!), konservativen Parteien zu überlassen. Merkt es, Alternative und Linke!

Die grundlegende Frage geht aber weiter als, wer welches Ministerium verantwortet und damit welche Macht ausübt. Es geht insgesamt darum, wieder eine europäische Makropolitik zu etablieren, in der Fiskal- und Geldpolitik ihre je eigene, aber miteinander abgestimmte Rolle spielen. In den Jahren seit der Finanzkrise hat die Geldpolitik allein diese Rolle übernommen. Sogar der frühere EZB-Chef Mario Draghi musste vor seinem Abgang die Finanzminister auffordern, endlich wieder die Fiskalpolitik angemessen einzusetzen, da die Geldpolitik ihre Grenzen überschritten hatte. Wie es scheint, ist diese von konservativen und liberalen Ministern nicht zu erwarten – zum Schaden der Eurozone. Offenbar bleibt das ermutigende rasche Eingreifen der Finanzminister in der Corona-Krise eine teure, aber angemessene Eintagsfliege. Für die Zukunft kann man nur appellieren: Lernen Sie Makropolitik, EU-Finanzminister! (Kurt Bayer, 2.12.2021)