Als Herbert Müller sein positives Testergebnis erfuhr, fiel er aus allen Wolken. "Oder von Wolke sieben, auf der ich schwebte, ganz hinunter."

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Bruder, was geht? Helfried Müller springt ein, Herbert vertraut ihm.

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Dreimal am Tag stellen sie ihm Essen vor die Zimmertür des Hotels in Maria Enzersdorf. Am Montag hat Herbert Müller, Cheftrainer von Österreichs Handballerinnen, einen positiven Corona-Test abgeliefert, wie auch Co-Trainer Erwin Gierlinger und Rückraumspielerin Katarina Pandza, die ebenfalls fehlten, als das Team am Dienstagmorgen zur WM nach Spanien flog. Der 59-jährige Deutsche muss und wird sich den österreichischen WM-Auftakt gegen China am Donnerstag (18 Uhr) auf ORF 1 ansehen.

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Ich komm mir vor wie in einem Käfig, wie ein Tiger, der am liebsten die Gitterstäbe durchbeißen möchte. Ich dreh durch. Es macht mich wahnsinnig, nicht dabei sein zu können. So viele Jahre haben wir gemeinsam darauf hingearbeitet.

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Bei Müller haben sich bald Symptome eingestellt, er ist nicht nur positiv, sondern krank. Schüttelfrost, Fieber und Kopfweh wurden mittlerweile von Gliederschmerzen und einer allgemeinen Schlappheit abgelöst. Müller will gar nicht wissen, wie es ihm ginge, wäre er nicht geimpft. Auch seinen Geruchssinn hat er verloren. Bei der WM wird er von seinem Bruder Helfried "Heli" Müller und von ÖHB-Sportdirektor Patrick "Paco" Fölser vertreten. Fölser war es auch, der Müller die unfrohe Botschaft überbrachte.

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Als Paco an meine Zimmertür geklopft hat, schwante es mir schon. Ich kann es mir nicht erklären. Natürlich bin ich geimpft. Und wir waren so vorsichtig, sind nur unter uns geblieben, haben niemanden getroffen. Selbst im Kraftraum waren wir immer allein. In all der Zeit hab ich hunderte Tests gemacht, allein in der deutschen Bundesliga sind pro Woche zwei PCR-Tests und ein Schnelltest obligatorisch. Und dann ist ausgerechnet der letzte Test vor der Abreise positiv? Als ich es erfahren habe, bin ich aus allen Wolken gefallen. Oder von Wolke sieben, auf der ich schwebte, ganz hinunter. Ich bin ins Badezimmer gegangen und hab nur noch geschrien. Und geflucht. Ich fluche sonst nie, und was ich da von mir gegeben habe, kann ich auch nicht wiederholen, das will niemand hören. Aber es geht dann auch sehr schnell, dass man wieder funktioniert. Man muss ja funktionieren.

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Es gab noch telefonische Einzelgespräche mit den Leistungsträgerinnen, eine Verabschiedung. Und am Mittwoch, als das Team schon in Spanien war, wurde China via Zoom gemeinsam per Video studiert. Pandza hat sich übrigens mittlerweile "frei-testen" und nachfliegen können, ihrem Einsatz gegen China sollte nichts im Wege stehen. Müller ist sehr froh darüber.

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Die erste Partie ist so wichtig. Gewinnst du die, kommst du so gut wie sicher in die Hauptrunde. Es ist ein großes Glück, dass der Heli einspringen und gemeinsam mit Paco die Mannschaft betreuen kann. Ich hab den besten Bruder der Welt, vertraue ihm voll. Wir haben uns immer super verstanden, wir sind seit 25 Jahren ein Trainerteam, davor haben wir schon gemeinsam Handball gespielt. Heli war der begnadete Techniker, ich der Kämpfer. Er hat immer dafür gesorgt, dass ich Tore schieße, er hat mich gefüttert.

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Helfried Müller ist vier Jahre jünger als Herbert. Die Liste ihrer gemeinsamen Erfolge als Trainer im Frauenhandball ist lang, sie haben zunächst in Nürnberg reüssiert, seit 2010 lenken sie die Geschicke des Thüringer HC. Die Müllers halten bei 19 Titeln, gewannen zehn deutsche Meisterschaften, fünfmal den Pokal, dreimal den Supercup und einmal den Challenge-Cup. Herbert sitzt seit 2004 nicht nur in Thüringen, sondern auch beim ÖHB-Team auf der Bank. 2009 hat sich Österreich schon einmal für eine WM qualifiziert. Zwei aktuelle Spielerinnen waren auch damals dabei, Torfrau Petra Blazek und Sonja Frey.

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Ich kann nur auf eine Reaktion der Mannschaft hoffen, ihr Motto muss einfach "Jetzt erst recht" sein. Diese Chance dürfen sie nicht sausen lassen, sie haben so viel investiert. Ich werde ihnen vor dem ersten Spiel noch von Dänemarks Fußballern erzählen. Das war natürlich ein ganz anderer, unglaublich brutaler Schock, als Christian Eriksen im ersten EM-Spiel zusammengebrochen ist. Aber wie die Dänen reagierten, wie sie als Team zusammenhielten, das war beispielhaft.

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Aus den acht Vierergruppen steigen jeweils die ersten drei Teams in die Hauptrunde auf. Österreich trifft in Gruppe H in Torrevieja an der Costa Blanca auf China, Argentinien und Spanien. Teamchef Müller wird heute während der China-Partie mit Fölser, der hinter der österreichischen Bank sitzt, ständig in telefonischem Kontakt sein – und in der Pause auch mit seinem Bruder. Er hofft, dass es ihm bald besser geht, er negativ getestet wird und nachkommen kann zur WM.

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Ich kann an nichts anderes denken.
(Fritz Neumann, 2.12.2021)