Kollektives Nachdenken.

Foto: AFP/GIUSEPPE CACACE

Dubai – In Runde fünf der Schach-WM in Dubai will Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi es noch einmal genau wissen: Wie ist das mit der Anti-Marshall-Variante, gegen die Magnus Carlsen sich in Runde drei so perfekt verteidigt hat, dass selbst die besten Computerprogramme nichts am Spiel des Champions auszusetzen hatten – geht da nicht doch was?

Ein bissl was geht immer

Wie zumeist in diesem WM-Match ist es Carlsen, der als erster von seiner zuvor gewählten Zugfolge abweicht. In Partie drei hatte der Norweger seinen weißfeldrigen Läufer im achten Zug auf b7 geparkt, diesmal bringt er den Damenturm nach b8. Am grundsätzlichen Charakter der Stellung ändert das überhaupt nichts, aber Carlsens Gedankengang leuchtet dennoch ein: Der Weltmeister will für seinen Kontrahenten kein unbewegliches Ziel sein, sondern den vorbereiteten Schlägen Nepos wie ein Boxer mit guter Beinarbeit am liebsten schon ausweichen, bevor der Russe sie anbringen kann.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 5.
Österreichischer Schachbund

Allerdings erweist sich die entstehende Variante bald als für Weiß ergiebiger als jene aus der dritten Partie. Nepomnjaschtschi spielt schnell und selbstbewusst und erreicht nach 19 Zügen eine optisch angenehmere Position plus solidem Bedenkzeitvorsprung. Auch wenn es kein riesen Vorteil ist: So gut ist der Herausforderer mit Weiß in diesem Match bisher noch nicht gestanden. Der Anziehende ist besser entwickelt, während die eher passiv postierten schwarzen Läufer sowie der vom eigenen royalen Ehepaar auf f8 gesandwichte Turm eher traurig aus der Wäsche schauen.

Verpasste Chance

Jetzt ist der Moment gekommen, in dem Nepomnjaschtschi einen Gang höher schalten und Druck auf die schwarze Stellung ausüben muss. Er versucht es mit 20. Ted1. Aber die kommentierenden Experten ebenso wie die mitrechnenden Computerprogramme hätten einen anderen Zug bevorzugt: Mit 20.c4! könnte der Russe Raum am Damenflügel gewinnen und eine Anrempelung des Ld6 mittels 21. c5 drohen. Schließt der Schwarze die Stellung mit 20...c5 ab, um genau das zu verhindern, dann versinkt der Läufer, dem nun zwei seiner eigenen Bauern dauerhaft in der Sonne stehen, wohl dauerhaft in schwarzfeldriger Depression.

Hat Nepo das denn nicht gesehen!? So fragen sich mitfiebernde Schachfans in aller Welt. Natürlich hat er, aber Schach ist halt ein schwieriges Spiel. Wie der Russe später in der Pressekonferenz erläutert, gefiel ihm an dieser Stelle ein Plan mit Aktivierung des eigenen weißfeldrigen Läufers auf der Diagonale a4-e8 noch besser als der Vorstoß des c-Bauern. Außerdem trug sich der Herausforderer mit der Hoffnung, mittels späterem Sf5 und Dc1 einen Einschlag in Carlsens Königsstellung auf h6 herbeiführen zu können.

Solche Ideen erweisen sich allerdings rasch als zu optimistisch. Nachdem der Weltmeister zunächst die weißfeldrigen Läufer und gleich darauf auch die Damen sowie ein Turmpaar tauschen kann, stehen einander die schwarzen Figuren gleich viel weniger auf den Zehen. Zwar verfügt Weiß immer noch über eine leichte Endspielinitiative. Aber das ist nicht die Art von Stellung, in der Magnus Carlsen sich von irgendjemandem einfach so überspielen lässt. In Ermangelung unmittelbarer Drohungen zentralisiert Nepomnjaschtschi seinen König und bringt all seine Figuren auf möglichst aktive Posten.

Carlsens Kavallerie

Der Weltmeister tut inzwischen zunächst einmal das Gegenteil: Die Reiterei muss zurück in die Stallungen auf der Grundreihe, auf e8 und f8 stehen die schwarzen Rössel nicht gerade aktiv. Aber Carlsen hat natürlich längst einen Plan für seine Kavallerie. Den einen Springer überführt er auf das schöne Feld e6, dort deckt er die potentiell schwachen Bauern c7 und g7 und steht jederzeit bereit, auf f4 oder c5 einzureiten. Dem anderen Springer macht der Läufer d6 Platz, der nun selbst vorübergehend auf sein Ausgangsfeld zurückkehren darf.

Sehr harmonisch und einfach sieht das alles bei Carlsen aus, der nun auch deutlich schneller zieht als zur Mitte dieser Partie, als der Norweger sichtlich unzufrieden mit seiner Stellung war. Im 39. Zug überquert dann endlich eine schwarze Figur zum ersten Mal an diesem Tag die Brettmitte: Es ist der verbliebene Turm, der Nepos König Schach bietet. Der Russe pariert mit dem eigenen Turm, Carlsen lässt den seinen ausweichen. Schon ist eine Remisschaukel für die längst absolut ausgeglichene Stellung gefunden, nach einem Handshake steht es 2,5:2,5.

Alea iacta non est

Dass heute mehr für Nepomnjaschtschi drin gewesen wäre, bestreitet später keiner der beiden Spieler. War Carlsen beunruhigt, als er die Möglichkeit 20. c4 für seinen Gegner sah? Ja, das war er in der Tat. Und ist die Remisserie zu Beginn der WM aus seiner Sicht ein Problem? Der Weltmeister gibt darauf eine interessante Antwort. Es gebe einen magischen Punkt, meint Carlsen, an dem das Remis bei WM-Matches von einem völlig normalen Resultat zu einem Problem werde. "Aber ich denke nicht, dass wir den Rubikon bereits überschritten haben."

Die Würfel sind in diesem WM-Match auf jeden Fall noch nicht gefallen. Nach einem Ruhetag am Donnerstag führt Magnus Carlsen in Partie sechs am Freitag wieder die weißen Steine. (Anatol Vitouch, 1.12.2021)