Die Whistleblowerin Frances Haugen warnt die Parlamentarier: "Facebook möchte, dass Sie sich in langen, haarspalterischen Debatten über unterschiedliche Ansätze verlieren."

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Hassrede, Hetzkampagnen und Falschinformationen beherrschen die sozialen Netzwerke. Facebook, Google und Twitter wissen von den zerstörerischen Inhalten auf ihren Plattformen, aber unternehmen wenig, um daran etwas zu ändern. Ganz im Gegenteil. Sie verdienen gut an dem Gift, das sie verbreiten, ungeachtet aller Konsequenzen für Demokratie und Gesellschaft.

Im US-Kongress unternehmen die Abgeordneten jetzt einen erneuten Anlauf, die Netzgiganten unter Kontrolle zu bringen. "Die amerikanische Öffentlichkeit erwartet von uns, dass wir handeln", sagt der Ausschussvorsitzende Mike Doyle aus Pennsylvania. Es ist vielleicht die letzte Chance, in dieser Legislaturperiode ein gemeinsames Gesetz auf den Weg zu bringen. Je näher die Parlamentswahl im November 2022 rückt, desto unwahrscheinlicher wird eine parteiübergreifende Zusammenarbeit.

Knackpunkt "Section 230"

Der Titel der Anhörung diese Woche lautete "Big Tech zur Verantwortung ziehen – zielführende Reformen der Immunitätsregeln für die Tech-Industrie". Im Zentrum stand dabei die sogenannte "Section 230", ein Passus im US-Kommunikationsgesetz aus dem Jahr 1996. Anders als Zeitungsverlage oder Rundfunkbetreiber können Internetkonzerne dank dieser Ausnahmeregelung nicht haftbar gemacht werden für die Inhalte, die auf ihren Plattformen verbreitet werden. Ein Schlupfloch, das Hass und Hetze Tür und Tor öffnet.

Ziel dieser "Aus dem Gefängnis frei"-Karten ist es seinerzeit gewesen, der noch jungen Internetwirtschaft auf die Beine zu helfen. Eine Rechnung, die zweifelsfrei aufgegangen ist. Nicht zuletzt aufgrund dieser Section 230 konnten Internetkonzerne wie Google und Facebook ungebremst wachsen, ohne sich um die Opfer scheren zu müssen, die ihre auf Profit maximierten Algorithmen produzierten.

Provokation als Geschäftsmodell

Gleich zu Beginn der Ausschusssitzung gab es ein Wiedersehen mit einer alten Bekannten: Frances Haugen, ehemalige Produktmanagerin von Facebook und spätere Kronzeugin in Washington, war als erste Expertin geladen. "Facebooks Verstärkungsmechanismus fördert Gewalt, die Menschen verletzt und sogar tötet", resümierte die 37-jährige Whistleblowerin in ihrem ersten Wortbeitrag. Facebook sorge bewusst dafür, dass die provokantesten Beiträge die meiste Reichweite erhalten.

Wozu eine solche computergestützte Polarisierung führen kann, ließe sich nicht nur in Schwellenländern wie Myanmar oder Äthiopien beobachten. Eine Kostprobe bekamen die US-Kongressabgeordneten selbst zu spüren, als Anfang des Jahres plötzlich ein aufgebrachter Mob das Kapitol stürmte. "Facebook entscheidet, welche Inhalte zig Millionen Menschen zu sehen bekommen und welche Inhalte begraben werden", so Haugen. Das Ergebnis sei ein System, das Spaltung, Extremismus und Polarisierung hervorbringe.

Tiefe Gräben

Wie gespalten Demokraten und Republikaner sind, ließ sich am Themenkomplex Fake-News beobachten. Der konservative Abgeordnete Brett Guthrie aus Kentucky warnte in seinem Redebeitrag vor Zensur und führte dazu das Beispiel der "Wuhan-Labor-Theorie" an, die noch immer ungeklärt sei.

Umgekehrt argumentierten die Demokraten, dass gerade die Pandemie gezeigt habe, wie lebensgefährlich im Netz kursierende Falschinformation für die Bevölkerung sein könnten. Die Expertin und promovierte Rechtswissenschafterin Mary Anne Franks zitierte dazu einen Virologen und Impfbefürworter: "Verschwörungstheoretiker nutzen die Social-Media-Maschine, und ich kämpfe dagegen an."

"Big-Brother-Tech hasst Konservative"

Auf einmal war von der anfänglichen Harmonie im Ausschuss nicht mehr viel zu spüren. Das Thema Redefreiheit erhitzte vor allem die Gemüter der Republikaner. In den vergangenen Jahren habe man beobachten können, wie konservative Ideen von den Social-Media-Plattformen systematisch unterdrückt worden seien, so der republikanische Abgeordnete Jeff Duncan aus South Carolina. "Big-Brother-Tech hasst Konservative." Dazu hielt er den Roman "1984" von George Orwell in der Hand und zog Parallelen zur Löschung der Social-Media-Kanäle von Ex-Präsident Donald Trump.

Wir brauchen mehr Redefreiheit, nicht weniger, so das einhellige Credo der Republikaner. Franks widersprach. Eine missbräuchliche Nutzung dieses Rechts könne auch zum Ende der Redefreiheit führen. Die sozialen Netzwerke ermöglichten es heute, gezielte Hass- und Desinformationskampagnen quasi zum Nulltarif zu organisieren. In der Folge würden sich vor allem schwächere Individuen und Minderheiten immer mehr aus den Netzwerken zurückziehen. Politiker, die mit dem Gedanken spielen, für ein Amt zu kandidieren, würden eingeschüchtert. Journalisten würden heikle Themen meiden.

Im Keller Geld drucken

Am Ende dieses ersten Ausschusstages wurde eines klar: Demokraten und Republikaner sind sich zwar grundsätzlich einig, dass Big Tech reguliert werden muss. Die Motive und damit verbundenen Ziele könnten allerdings gegensätzlicher nicht sein. Während sich die Demokraten für mehr Moderation und die Löschung problematischer Inhalte einsetzen, wünschen die Republikaner keinerlei Eingriffe in die Beiträge und kämpfen gegen die willkürliche Sperrung von Konten.

Ob sich die Parlamentarier auf eine gemeinsame Gesetzesnovelle einigen werden, bleibt fraglich. Ein ehemaliger Facebook-Mitarbeiter brachte die Situation einst wie folgt auf den Punkt: "In ein paar Wochen widmen die sich wieder einem anderen Thema. In der Zwischenzeit drucken wir weiter im Keller Geld und sind zufrieden." Und so klingt auch Haugens Appell an die Abgeordneten fast schon wie eine Prophezeiung: "Facebook möchte, dass Sie sich in langen, haarspalterischen Debatten über unterschiedliche Ansätze verlieren", so die Tech-Insiderin. "Bitte, tappen Sie nicht in diese Falle!" (Richard Gutjahr, 2.12.2021)