Der ehemalige Neos-Chef Matthias Strolz schreibt in seinem Gastkommentar über den Rückzug von Sebastian Kurz – und was das Land jetzt dringend braucht.

Persönlich wünsche ich Sebastian Kurz alles Gute – menschlich und als Vater. Er hat nun offensichtlich erkannt, dass es vorbei ist. Eine Rückkehr ins Kanzleramt geht sich für ihn nicht aus. Das Parlament hat ihn nie interessiert.

Er verlässt jetzt seine Funktionen, solange er noch durch die Vordertüre gehen kann. Dieses Zeitfenster hätte sich in den nächsten Monaten geschlossen. Die ÖVP hätte ihn ob der schlechten Umfragewerte hinausgeputscht. Landeschefs wie Johanna Mikl-Leitner, Günther Platter & Co brauchen klare Verhältnisse für ihre Landtagswahlen. Die polithandwerkliche Grandiosität der türkisen Clique ist gekippt. Die Fassade ist zerbrochen. Was sich dahinter verbirgt, ist beklemmend.

Sebastian Kurz hat den Rücktritt von allen Funktionen erklärt. Die ÖVP muss sich neu aufstellen.
Foto: EPA/Christian Bruna

Die Ermittlungen in Sachen Bestechlichkeit und Untreue werden – so meine Erwartung – in den nächsten Monaten noch weiter Substanz bekommen. Sebastian Kurz hat mich als Kollege immer auch fasziniert, seine Talente habe ich immer respektiert. Seine Arbeit als Staatssekretär für Integration fand ich positiv. Wofür er später seine Talente eingesetzt hat, irritierte mich ab 2016 zunehmend, in den letzten Jahren hat es mich schockiert und beklemmt. Er war im Umgang – vordergründig – immer freundlich und charmant. Ich habe länger gebraucht, um Dahinterliegendes zu begreifen. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes offensichtlich auch.

Demokratische Unkultur

Der Schaden für unser Österreich, der durch das türkise System aufgerissen wurde, ist groß und wird uns noch viele Jahre beschäftigen. "Der Wahn ist kurz. Die Reu ist lang." (Friedrich Schiller) Österreich wird weiter ins Unsichere drehen. Doch wir sind nicht nur ein verwundetes und gespaltenes Land, das sich um einen konstruktiven Umgang mit bestehenden Polarisierungen, der fortschreitenden Unterminierung demokratischer Institutionen und demokratischer Unkultur in vielen Schattierungen (zum Beispiel der Lüge als politisches Standardinstrument) wird widmen müssen. Wir sind auch ein Land, das sich in einem politischen Großumbau befindet, der sich über Jahrzehnte erstreckt. Darin liegen auch viele Chancen. Und mit Verwerfungen wie den aktuellen ist in so einem elementaren Wandlungsprozess zu rechnen.

Das Alte stirbt: das rot-schwarze Machtmonopol, das Österreich über sieben Jahrzehnte dominiert hat. Das Neue ist noch nicht ganz da. Es ist jedenfalls kein türkises Regime auf Jahrzehnte. Gut so! Ich wünsche unserem Land eine Zukunft als unaufgeregte Demokratie westlichen Zuschnitts. Dazu gehört auch der sogenannte "politische Pendelschlag". Es muss nicht ein und dieselbe Partei 35 Jahre und länger in der Regierung sein – das tut offensichtlich ihr selbst nicht gut und auch nicht dem Land. Es sind die stets arbeitenden Selbstreinigungs- und Selbsterneuerungskräfte, die das Modell der Demokratie langfristig der Diktatur überlegen machen.

Selbstreinigung und Selbsterneuerung – das wünsche ich unserem Österreich, als Neujahrsvorsatz 2022 und als Mantra für die nächsten Jahre. (Matthias Strolz, 2.12.2021)