Kaum ein Thema spaltet die Gesellschaft so sehr wie – die Spaltung von Atomen. Für die einen ist sie eine notwendige Brückentechnologie, bis uns Erneuerbare weitgehend emissionsfrei mit Energie versorgen können. Für die anderen ist die Kernkraft einfach nur ein gemeingefährliches und teures Projekt, das uns früher oder später auf den Kopf fällt. Aber was ist nun wirklich dran am Klimaretter Atomkraft?

Ist Atomenergie wirklich so CO2-arm, wie behauptet wird?

CO2-frei ist die Atomenergie in ihrer Gesamtheit freilich nicht. Ein Kraftwerk zu errichten verbraucht große Mengen Beton, Stahl und Energie, wodurch natürlich auch Kohlendioxid emittiert wird. Der Abbau dauert aufgrund verstrahlter Bauteile oft genauso lang, wie es brauchte, das AKW aufzustellen, und auch das bindet Ressourcen – ebenso wie der Abbau des Urans, dessen globale Auslieferung aus den großen Abbaugebieten in Australien, Südafrika, Namibia, Russland, Kanada oder den USA und dessen Anreicherung. Auch die Errichtung von Zwischen- und Endlagern für verbrauchte Brennstäbe und anderen verstrahlten Müll sowie der Transport in die entsprechenden Stätten verursacht CO2. Wie viel genau, das weiß noch niemand – denn die Frage der Endlagerung ist nach wie vor ungelöst.

Was hingegen schon stimmt, ist, dass die Atomkraft bei der Energiegewinnung im Gegensatz zur Verbrennung von Öl, Kohle oder Gas gar keine Emissionen ausstößt. Das gilt für erneuerbare Energien freilich auch. Umso wichtiger ist es, sich anzuschauen, wie viel CO2 pro erzeugter Kilowattstunde Strom ausgestoßen wird, und zwar über den gesamten Lebenszyklus einer Energieform. Die Grundaussage aller Studien zu diesem Thema ist klar: Kohle, Gas und Erdöl sind Dreckschleudern. Während für die Gewinnung einer Kilowattstunde Strom aus Kohle das Äquivalent von einem Kilo CO2 freigesetzt wird, rangieren alle erneuerbaren Energien wie auch die Kernenergie meist unter 30 Gramm. So zumindest sagen es die Zahlen des Weltklimarats. Die Windenergie geht daraus meist als Gewinnerin hervor, während Photovoltaik, Wasserkraft, Geothermie und Nuklearenergie je nach Studie, Berechnungsart und Interessengruppe, die die Studie in Auftrag gibt, unterschiedliche Plätze auf dem Stockerl besetzen.

Können wir unseren aktuellen Energiebedarf ohne Atomenergie decken?

Die 445 in Betrieb befindlichen Reaktoren weltweit verfügen über eine kombinierte Leistung von rund 400 Gigawatt. 2020 lieferten sie zusammen etwa 2.553 Terawattstunden Elektrizität, was rund zehn Prozent des globalen Stromverbrauchs entsprach. Zehn Prozent einfach so zu ersetzen wäre erst einmal eine Mammutaufgabe. Schnell geht da wenig.

Könnten erneuerbare Energien heute atomare Energie aber prinzipiell schon ersetzen? Schaut man nicht nur auf Elektrizität, sondern auf den gesamten Energieverbrauch, also auch Heizen, Treibstoffe für Autos oder Flugzeuge sowie die Baubranche, dann dominieren die Fossilen noch deutlicher. Atomenergie und Erneuerbare machten noch 2019 nur einen recht geringen Anteil an den primären Energiequellen der Erde aus. Kohle, Öl und Gas deckten immer noch unfassbare 84,3 Prozent des globalen Energiebedarfs. Lediglich 11,4 Prozent wurden durch Erneuerbare, 4,3 Prozent durch Atomenergie gedeckt.

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Schaffen wir auch ohne Atomenergie die Energiewende? Das ist die große Frage.
Foto: REUTERS/Eva Manez

Wird Atomstrom abgeschaltet, wird er auch heute noch oft durch fossile Energie ersetzt. Einige Forscher befürchten, dass der deutsche Atomausstieg Ende 2022 zu einem deutlich verspäteten Kohleausstieg führen wird. Prinzipiell gehen Forschende aber davon aus, dass bei entsprechendem politischem Willen die Welt sogar schon 2050 zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energieträgern versorgt werden kann.

Die Technische Universität Lappeenranta hat gemeinsam mit der Energy Watch Group errechnet, dass dieser Umstieg aufgrund der fallenden Preise für erneuerbare Energie nicht einmal teurer käme, als bei Öl und Kohle zu bleiben. Einkalkuliert ist eine bis 2050 auf 9,7 Milliarden Menschen angewachsene Weltbevölkerung sowie ein jährlich um zwei Prozent wachsender Energiebedarf. In diesem Szenario würde die schnell günstiger werdende Photovoltaik rund 69 Prozent der Energie liefern, 18 Prozent lieferte dann Wind. Der Rest würde sich auf Wasserkraft, Geothermie und Biomasse verteilen. Nuklearenergie würde in diesem Szenario ebenso wenig eine Rolle spielen wie Fossilenergie.

Wie sieht es mit den Kosten aus?

Nuklearenergie sei spottbillig, argumentieren Atomkraftbefürworter häufig. Schließlich steckt in wenigen Gramm angereichertem Uran genug Energie, um einen Haushalt ein ganzes Jahr lang zu versorgen. Doch die Kosten für den Brennstoff machen nur einen Bruchteil dessen aus, was der Strom letztlich kostet. Auch der Bau eines AKWs kostet Geld – und dort kommt es häufig zu jahrelangen Verzögerungen und Kostenexplosionen. Auch die Sicherung kostet Geld, ebenso wie die Endlagerung des Atommülls oder der Rückbau.

Ob es sich Kernkraft unterm Strich doch noch auszahlt, hängt wie bei der CO2-Bilanz davon ab, wen man fragt. Industrieverbände beteuern, dass Atomkraftwerke über Jahrzehnte zuverlässig klimafreundlichen und günstigen Strom liefern. Hoffnungen sehen sie in Atomreaktoren im Kleinformat, die als Ganzes in einer Fabrik produziert und schnell aufgebaut werden können, was Kosten spart. Zumindest auf den ersten Renderings ist von den charakteristischen Kühltürmen keine Spur, sie sehen eher aus wie flache Bürogebäude.

Viele Umwelt-NGOs sehen in Kernkraft hingegen eine Technologie, die nur überlebensfähig ist, wenn der Staat kräftig subventioniert – und indirekt auch das Risiko für einen Reaktorunfall übernimmt. Auch die Internationale Energieagentur (IEA) hat berechnet, dass neue Atomkraftwerke mittelfristig kaum mit erneuerbaren Energien mithalten können. Vergleichsweise günstiger Strom ist jedoch zu haben, wenn man die Laufzeit bestehender Kraftwerke verlängert.

Und was, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht?

Doch selbst die günstigste und sauberste Energie bringt wenig, wenn sie nicht da ist, wann sie gebraucht wird. Verlässt sich ein Land zu sehr auf Wind und Solar, kann das Stromnetz bei Flauten und Wolken schnell ins Strudeln geraten. Ein komplett erneuerbares Stromnetz ist deshalb nur so gut wie seine Speicherkapazitäten. Hier hofft man insbesondere auf Lithium-Akkus, deren Preis in den vergangenen Jahren enorm gefallen ist. Doch derzeit sind weder Netze noch Speicher bereit für den stark schwankenden Wind- und Sonnenstrom.

Viele preisen Atomkraft deshalb als "Brückentechnologie", die so lange eingesetzt werden soll, bis günstige Stromspeicher verfügbar sind. Denn einem Atomkraftwerk sind Wetter und Tageszeit grundsätzlich egal. Aufzupassen gilt es freilich bei Unwetterkatastrophen wie Tsunamis, anderen Überschwemmungen oder auch Erdbeben.

Die Welt scheint uneins, ob Atomenergie eine gute Idee ist

Tatsächlich gibt es mehrere Lager. Obwohl die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) so gut wie alle größeren Staaten umfasst und ihrerseits die friedliche Nutzung der Atomenergie propagiert, produzieren lediglich 32 Staaten Strom in Kernkraftwerken. Vor allem die großen Reaktorunfälle von Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima sorgten für ein partielles oder komplettes Umdenken in der Politik mancher Staaten.

In Europa besiegelten nach Fukushima etwa Deutschland, die Schweiz, Belgien und Spanien ihren Ausstieg aus der Atomkraft. Länder wie Italien, Irland oder auch Österreich bekräftigten ihre Ablehnung der Energieform. Ihnen stehen in Europa mit Frankreich oder Großbritannien zumindest in den politischen Eliten zwei mächtige und überzeugte Atomenergiebefürworter gegenüber.

Diese gibt es international zuhauf. In 19 Staaten weltweit wird aktuell an 50 neuen Reaktoren gebaut – allen voran in China, Indien, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Bis zu 28 weitere Staaten wollen laut IAEA angeblich in die Atomenergie einsteigen. Während einige also einstampfen und auslaufen lassen, bauen andere aus und fahren hoch. Von einer gemeinsamen Linie, wie sie sich bei den fossilen Brennstoffen zumindest in Ansätzen erahnen lässt, kann bei der Kernenergie also keine Rede sein. Die IAEA korrigierte ihre Prognose kürzlich sogar nach oben. Im Extremfall könnte sich die per Atomspaltung erzeugte Energie bis 2050 sogar verdoppeln.

Wird uns die Fusionsenergie retten?

Der Running Gag unter ihren Kritikern lautet: "Die einzige Konstante in der Kernfusion ist, dass ihr Einsatz stets 30 Jahre entfernt ist." Ihre Befürworter ließen sich davon aber nicht abbringen und forschten weiter, auch wenn die für diesen hochkomplexen Vorgang notwendigen Mittel nicht immer nach Wunsch vorhanden waren. Zu aussichtsreich sind Einsatzmöglichkeiten im Erfolgsfall. 0,015 Prozent eines Liters Meerwasser etwa sind Deuteriumoxid, sogenanntes Schweres Wasser. "Da steckt gleich viel Energie wie in einem Barrel Erdöl drin", erklärt der Fusionsexperte Friedrich Aumayr von der TU Wien im STANDARD-Gespräch. "Und die restlichen 99,985 Prozent des Liters Wasser habe ich noch nicht einmal dafür gebraucht."

Worum geht's? Bei der Kernfusion werden im Gegensatz zur weitverbreiteten Fission keine Atome gespalten, sondern miteinander verschmolzen – oder eben fusioniert. Im Grunde will man jene Prozesse, die sich in der Sonne abspielen, auf der Erde nachahmen. Klingt heiß, ist es auch. Wegen der enormen Dichte der Sonne kann der Prozess dort bei 15 Millionen Grad Celsius ablaufen, auf der Erde braucht es hingegen deutlich mehr als 100 Millionen Grad Celsius. Die Umwandlung von Wasserstoff in Helium unkontrolliert nachzuahmen schafften die USA bereits 1952, als sie die Wasserstoffbombe erfolgreich testeten. Seither setzte ein Schneckenrennen ein, diese enorme Mengen an freigesetzter Energie auch in kontrollierter Form zu nutzen. Eines der größten Forschungsprojekte der Welt, ein Zusammenschluss von 27 Industrienationen, versucht seit 2007 am Iter in Frankreich, dem größten Fusionsreaktor aller Zeiten, den Beweis zu liefern, dass es klappen kann. Dass es klappen wird und dass am Ende deutlich mehr Energie herauskommt, als hineingesteckt wird, davon sind die meisten Wissenschafter überzeugt. Die große Frage bleibt das Wann.

Besonders spannend: "Die Industrie hat etwas früher als erwartet Lunte gerochen", zeigt sich Aumayr erfreut über die dutzenden Firmen weltweit, die ihrerseits versuchen, das neueste Know-how für den großen Durchbruch zu nutzen. "Die größte Leistung der Privaten ist ihre Innovationskraft. Sie schaffen es stets, Dinge kleiner, schlanker und billiger zu machen", zieht Aumayr Vergleiche zu anderen Branchen. Klar seien ihre Zeithorizonte teilweise äußerst optimistisch und auch dazu gedacht, Investorengelder zu lukrieren – immerhin 2,6 Milliarden Dollar in den vergangenen Jahren –, aber es gehe nun merklich viel weiter. "Die haben durchaus clevere Ideen", so Aumayr.

Die Fusionsenergie sei die einzig bekannte Energieform auf der Erde, die wir noch nicht aktiv nutzen, sagt Aumayr. "Wenn es dann aber so weit ist, sollten wir nur noch sie in Kombination mit den Erneuerbaren nutzen", sagt der Physiker. Denn wenn man in geologischen Zeitaltern, also an die nächsten paar tausend Jahre, denkt, seien nur die Erneuerbaren und der Wasserstoff für die Fusionsenergie nicht endlich. Klimaschädliche Emissionen liefert bei Fusionsenergie hauptsächlich nur der Auf- und Abbau der Infrastruktur. Beachten müsste man freilich, ob die zugeführte Energie aus Erneuerbaren kommt. (Fabian Sommavilla, Philip Pramer, 3.12.2021)