Frau Goggia in Aktion. In Lake Louise zählt sie zu den Favoritinnen, auch wenn sie in Nordamerika bisher noch kein Weltcuprennen gewonnen hat.

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"Ich bin für mein eigenes Glück verantwortlich", hat Sofia Goggia erkannt.

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Ein "dummer Fehler", so nennt es Sofia Goggia selbst, hat sie ins Grübeln gebracht. Im weichen Schnee einer Talabfahrt in Garmisch-Partenkirchen – abseits der Rennpiste – kam sie zu Sturz und brach sich den Schienbeinkopf im rechten Knie. Vier Abfahrten hatte sie davor in Serie gewonnen, die Konkurrenz fast nach Belieben dominiert. Mit dem Unfall Anfang Februar war die Teilnahme an der Heim-WM in Cortina gelaufen. Und Goggia hatte mit sich selbst zu kämpfen.

"Die Verletzung hat mich über meinen Selbstwert nachdenken lassen", sagt sie dem STANDARD. Sie erklärt, dass es da zwei Seiten in ihr gebe – wie bei einer Medaille. Keineswegs jedoch zwei Persönlichkeiten, das ist ihr wichtig zu betonen. Ihre Emotionen hätten in der Reha-Phase die Fakten überdeckt.

"Frau Goggia befand sich hier", sagt sie, ihren linken Ellbogen hebt sie dabei an, mit der flachen Hand bildet sie eine Schranke knapp über ihrer Stirn. "Und die Sofia", sie nimmt jetzt die rechte Hand dazu, "die war irgendwo weit darunter", sie deutet auf die Höhe des Brustkorbs.

Die eine, die rationale Seite der Frau Goggia steht für die Hochrisikoskiläuferin, die trotz einer langen Liste an Verletzungen mit elf Weltcupsiegen und Olympiagold eine der besten ihres Sports ist. Die andere, emotionale Seite namens Sofia suchte nach ihrer Identität. "Um eine komplette Athletin zu werden, musste Sofia zu Frau Goggia aufschließen." Sie kümmerte sich um ihre Persönlichkeit, suchte ein "normales" Leben und weniger nach dem perfekten Schwung auf zwei Skiern. Die Frage, die sie sich stellte: Wer bin ich eigentlich?

Schnell

Dabei lässt sich Kritik an der Lebensweise von Skiprofis heraushören. "In diesem Sport kommt die persönliche Weiterentwicklung zu kurz", sagt sie. Jede will an die Spitze kommen, schnell sein, arbeitet hart, aber eindimensional. "Man darf auf sich selbst nicht vergessen. Das ist der häufigste Fehler, der Spitzensportlern passiert." Goggia schreibt Tagebuch, mal mehr, mal weniger, jedenfalls "immer dann, wenn ich mich danach fühle". Sie führt ein rasantes Leben, das müsse sie ab und zu niederschreiben. "Ich vergesse sonst, was ich tue, wie ich lebe." Papier ist geduldig.

Skifahren ist ein Ausdruck des Charakters. Ein Satz, den Goggia gerne wiederholt. In ihren Läufen stecke die Leidenschaft zum Sport und die "manische" Intensität aus dem Training. "Manchmal bin ich fehleranfällig, dann wieder geht mir alles auf. Das reflektiert, wie ich mich an dem Tag fühle", sagt sie: "Das ist in jedem Beruf so."

Mit sich selbst hat sie eine Vereinbarung geschlossen: Sie konzentriert sich ausschließlich auf die Dinge, die sie gut machen muss. So gelingt es ihr, Druck auszublenden. "Ich bin für mein eigenes Glück verantwortlich." Verletzungen seien Teil des Spiels. Abhaken, nach vorne schauen und "mein Bestes geben", sagte sie sich nach der verpassten WM. Kurz darauf wurde sie belohnt: Obwohl sie die drei letzten Abfahrten der Saison verpasste, gewann sie die Weltcupwertung in dieser Disziplin – nach der Saison 2017/18 zum zweiten Mal.

Schneller

Goggia wurde am 15. November 1992 in Bergamo geboren. Ihre Mutter lehrt Literaturwissenschaften, ihr Vater ist Ingenieur und Künstler. Ihr Bruder Tommaso, er ist drei Jahre älter als Sofia, fuhr Ski, deshalb wollte die Schwester auch, da war sie gerade einmal drei Jahre alt. Tommaso war mehr der Genussläufer, er fuhr Hobbyrennen, das war bei Sofia anders. Ihr erster Skilehrer, erzählte sie einmal, sei richtig gut gewesen. Nicht nur, weil er ein Verständnis für gute Fahrtechnik hatte. Er brachte ihr die Siegermentalität bei, stattete sie mit ewigem Hunger nach Erfolg aus.

Mit 15 gewann Goggia ihre ersten nationalen Meistertitel, kurz darauf startete sie erstmals im Europacup, der zweithöchsten Liga im Skisport. Sie brauchte einige Jahre, um zu den wirklich schnellen Läuferinnen im Weltcup zu gehören. Mit 18 zog sie sich in beiden Knien einen Kreuzbandriss zu, 2013 riss das Band im linken Knie in der Abfahrt von Lake Louise erneut.

Heute arbeitet Goggia mit Gianluca Rulfi, einem Trainer-Urgestein im italienischen Verband. Er brachte etwa Peter Fill und Dominik Paris an die Spitze, ehe er das Frauenteam als Cheftrainer übernahm. Er gilt als Architekt des Erfolgs. Federica Brignone wurde Gesamtweltcupsiegerin, Marta Bassino zur besten Läuferin im Riesenslalom. 2018 gelang Goggia der Durchbruch mit Olympiagold in der Abfahrt von Pyeongchang. Rulfi habe eine "einzigartige Sicht auf den Sport", sagt Goggia, sie vertraut ihm. 17-mal fuhr sie im Weltcup bereits auf ein Abfahrtspodest, von den aktiven Läuferinnen gelang dies nur Lara Gut-Behrami öfter (18).

Am schnellsten

Goggia sagt über ihre Ziele für den heurigen Winter, sie wolle "am schnellsten Ski fahren", in jedem Rennen. Als DER STANDARD über die knappe Antwort schmunzelt, wird ihre Miene ernster. Es ist wieder Frau Goggia, die da spricht, sie will, dass die Nachricht wirklich ankommt, und sagt: "Am. Schnellsten. Ski fahren." Die Übung gelang ihr bereits im ersten Abfahrtstraining von Lake Louise am Dienstag, das Ergebnis will sie in den Rennen am Freitag und Samstag (jeweils 20.30 Uhr, ORF 1) wiederholen.

Die Österreicherinnen zählen nicht zu den Topfavoritinnen, Tamara Tippler und Ramona Siebenhofer fuhren im vergangenen Winter immerhin auf das Podest. Nicole Schmidhofer hofft auf ein Comeback nach ihrem horrenden Sturz in Val d’Isère vor einem Jahr, die Rennen in Kanada könnten noch zu früh kommen. Sie steht jedenfalls im Aufgebot des ÖSV. Am Sonntag ist noch ein Super-G angesetzt (18.30 Uhr), der Wetterbericht für das Wochenende ist allerdings schlecht. (Lukas Zahrer, 3.12.2021)