Ein ukrainischer Soldat an der Front nahe der Stadt Horliwka.

Foto: AFP / Anatolii Stepanov

Der Streit zwischen Russland und der Ukraine spitzt sich dramatisch zu: Kremlsprecher Dmitri Peskow reagierte am Donnerstag scharf auf die Äußerung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der tags zuvor in der Rada die Rückgewinnung der Krim zum Ziel der ukrainischen Politik erklärt hatte. "Wir sehen das als direkte Drohung gegenüber Russland, weil diese Formulierung bedeutet, dass das Regime in Kiew gewillt ist, alle Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung stehen, darunter auch militärische, zu nutzen", kommentierte Peskow.

Das russische Staatsfernsehen zeigte zur Verdeutlichung der angeblich von Kiew ausgehenden Gefahr ein Artilleriemanöver der ukrainischen Streitkräfte in der Region Cherson vor der Krim. Gleichzeitig rapportierte der russische Inlandsgeheimdienst FSB über die Festnahme dreier ukrainischer Saboteure. Alle drei seien geständig. Ein Mann habe einen Sprengstoffanschlag vorbereitet, zwei andere Spione hätten im Auftrag des ukrainischen Geheimdienstes SBU Infrastrukturobjekte in Russland fotografiert.

Warum Letztere für diese Aufgabe mit einem ganzen Arsenal an Schusswaffen herumreisten, geht aus dem Beitrag nicht hervor. Der Publizist Anton Orech vermutet Stimmungsmache: "Ob die Russen bald im Kreiswehrersatzamt Schlange stehen, um die schreckliche Gefahr vonseiten der Ukraine abzuwehren?", fragte er sarkastisch in seinem Blog.

Truppenkonzentration beiderseits

Klar ist, dass die Gefahr einer Eskalation des schwelenden Donbass-Konflikts deutlich gestiegen ist. Verletzungen der Feuerpause – auch durch schwere Artilleriewaffen – sind an der Tagesordnung, ebenso wie Meldungen von Verletzten und Toten an der Front. Auf beiden Seiten wurde massiv Militär zusammengezogen.

Die USA werfen Russland vor, nahe der Grenze zur Ukraine etwa 115.000 Soldaten stationiert zu haben. Kiew spricht von der Vorbereitung einer russischen Offensive im Jänner oder Februar. Die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa wiederum warf jüngst Kiew ebenfalls eine drastische Truppenkonzentration in der Region vor. Im Donbass stehe inzwischen die Hälfte der ukrainischen Streitkräfte – 125.000 Mann – sagte sie. Vieles deute auf eine bevorstehende Provokation Kiews hin. Ähnlich argumentierte nun auch Peskow: Die Wahrscheinlichkeit militärischer Aktionen im Donbass sei weiterhin hoch, darauf deute auch die aggressive Rhetorik Kiews, die offenbar eine militärische Lösung des Konflikts nicht ausschließe.

Vorwürfe gegenüber Nato

Zugleich erhebt Moskau schwere Vorwürfe gegenüber der Nato. Während der Westen Russland eine Truppenkonzentration auf eigenem Gebiet vorhalte, sei nicht nur Militärtechnik der Nato in den Osten verlegt worden, sondern es sei auch eine Reihe von Militärberatern der Allianz im Donbass gesichtet worden, so das russische Außenministerium. Diese Unterstützungsmaßnahmen könnten Kiew zu militärischen Handlungen verleiten, mutmaßte Außenminister Lawrow.

Der russische Chefdiplomat kam am Donnerstag am Rande des Außenministertreffens der OSZE-Staaten mit seinem US-Amtskollegen Antony Blinken zusammen. Dabei betonte er, dass Russland an einer friedlichen Lösung der Donbass-Krise interessiert sei, und lud Blinken dazu ein, sich an den diplomatischen Bemühungen rund um das Normandie-Format zu beteiligen.

Nato-Erweiterung als rote Linie

Lawrow warnte zudem davor, dass Europa auf ein "militärisches Albtraumszenario" zusteuere, eine Konfrontation wie zu Zeiten des Kalten Kriegs, als nach dem Nato-Doppelbeschluss Atomraketen in Westeuropa aufgestellt wurden.

Schon Mittwoch hatte Russlands Präsident Wladimir Putin bei der Begrüßung der neuen Botschafter, darunter auch Österreichs Werner Almhofer, die neue rote Linie des Kremls vorgegeben: Russland brauche, nachdem mündliche Vereinbarungen nicht eingehalten worden seien, schriftliche Sicherheitsgarantien dafür, dass die Nato sich nicht weiter nach Osten ausdehne, sagte der Kremlchef.

Diese Argumentation führte Lawrow in Stockholm aus: Die "verantwortungslose" Osterweiterung der Nato zerstöre die strategische Stabilität in Europa und führe zu zunehmender Konfrontation. Vorschläge zur Deeskalation ignoriere die Militärallianz, stattdessen erhöhe sie den Spannungsgrad durch die Stationierung von Raketen in Rumänien und Polen und das Anheizen des Konflikts in der Ukraine, kritisierte er.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte erst am Mittwoch Russland das Vetorecht über einen eventuellen Nato-Beitritt der Ukraine abgesprochen. Der russische Außenpolitiker Alexej Puschkow kommentierte verärgert, Russlands Sicherheitsinteressen würden ignoriert, dafür erstreckten sich jene der Nato "gleich bis nach China". Dass der Westen alles, Russland aber nichts dürfe, sei "Heuchelei hoch drei", sagte er verärgert. (André Ballin aus Moskau, 3.12.2021)