Die Stadt Wien will die sogenannte Stadtstraße von der A23 in Hirschstetten nach Aspern jedenfalls bauen. Der Konflikt mit den Baustellenbesetzern scheint programmiert.

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Wien – Wenn es gegen die grüne Umwelt- und Verkehrsministerin geht, versammeln sich Landespolitiker von SPÖ und ÖVP besonders gern auf einer Bühne. So geschehen am Donnerstag anlässlich einer Pressekonferenz im Wiener Rathaus. Anlass für den Paarlauf war jene Entscheidung von Leonore Gewessler, die seither die Emotionen in den Landesregierungen von Wien und Niederösterreich hochkochen lässt: das Aus für den jahrelang geplanten – und umstrittenen – Schellstraßenabschnitt der S1 zwischen Schwechat und Süßenbrunn inklusive Lobautunnel.

"Verhöhnung" der Wienerinnen und Wiener

Die Absage der Nordostumfahrung sowie der Marchfeld-Schnellstraße (S8) sei eine Verhöhnung der verkehrsgeplagten Ostregion und ein Schlag ins Gesicht der Menschen in Wien und Niederösterreich. Die Ministerin habe die einzige Lösung zur Entlastung von Wohngebieten gestrichen, beklagten die Wiener Verkehrs- und Planungsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) und der niederösterreichische Verkehrslandesrat Ludwig Schleritzko (ÖVP).

"Jede kleinere Stadt hat eine Umfahrung, nur die Millionenstadt Wien nicht", echauffierte sich Sima. Für die Umfahrung der 3000-Einwohner-Gemeinde Rainbach in Oberösterreich habe Gewessler grünes Licht gegeben. Wienerinnen und Wiener hingegen würden nicht vor Durchzugsverkehr und Lärm geschützt. "Hier wird der Verkehr weiter durch die Stadt donnern."

Rechtliche Schritte prüfen

Gemeinsam wollen Wien und Niederösterreich nun rechtliche Schritte gegen die Absage der Wiener Außenringschnellstraße (S1), wie die Nordostumfahrung korrekt heißt, prüfen. Details zu konkreten Möglichkeiten ließen die beiden offen. Schleritzko polterte allerdings: "Auch eine Ministerin steht nicht über dem Gesetz, in dem Fall dem Bundesstraßengesetz."

Im Bundesstraßengesetz findet sich unter Paragraf 37 tatsächlich eine lange Liste von längst verwirklichten und geplanten "Bundesstraßen A" und "Bundesstraßen S", also vom Bund (im Wege der Asfinag) finanzierten, errichteten und betriebenen Bundesautobahnen und Bundesschnellstraßen beziehungsweise deren Teilabschnitten. Über einen Zeitplan der Realisierung steht im Gesetz kein Wort.

Liste mit Karteileichen

So findet sich die Weinviertel-Schnellstraße (S3) auf dieser Liste, die allerdings bereits vor Jahren begraben wurde – diesfalls im Einvernehmen mit dem Land Niederösterreich. Die dazugehörige Streichung aus dem Bundesstraßengesetz erfolgte freilich nie. Laut der Strategischen Prüfung Verkehr hätte die S3 nie ins hochrangige Straßennetz aufgenommen werden dürfen. Denn die zu erwartende Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung im Untersuchungsgebiet rechtfertigte hinsichlich der Verkehrsnachfrage keinen Schnellstraßenausbau, kritisierte der Rechnungshof. Einzig auf Höhe Stockerau kam man auf 32.000 Kfz pro Tag, bei Hollabrunn waren es rund 21.000 und beim Grenzübergang Kleinhaugsdorf nur mehr 16.000 Kraftfahrzeuge. Ein Autobahnanschluss auf tschechischer Seite war nie geplant.

Bei der S1 dürfte es – das ist aus dem Widerstand von Wien und Niederösterreich abzuleiten – wohl anders laufen. Für die notwendige Streichung aus dem Gesetz bräuchte die Verkehrsministerin jedenfalls den Sanktus des Koalitionspartners ÖVP, der eher nicht zu bekommen ist, oder nur zu einem hohen Preis.

Strategische Prüfung Verkehr

Folgt man allerdings der Argumentation des Rechnungshofs (RH), müsste Gewessler für den angekündigten Stopp von S1, S8, S34 oder S36/S37 eine Strategische Prüfung Verkehr (SP-V) durchführen. Denn wohl handelte es sich damals bei der Streichung von Straßen aus dem Bundesstraßengesetz um noch nicht realisierte Projekte, hinsichtlich der verkehrlichen Wirkung dieser Streichung sei aber so ein von der EU vorgeschriebenes "Screening" unerlässlich. Als Beispiele führte der RH die Streichung der Anfang der 2000er-Jahre geplanten Stadtautobahn A24 (von der A23 nach Rothneusiedl) oder die ursprünglich als Nordostumfahrung angedachte Verlängerung der A23 über die Donau an, die dann später durch die nunmehr umstrittene S1 samt Lobautunnel ersetzt wurde.

Wie die S1 heute war auch die damalige Variante als Entlastung für die Donaustadt und die A23 verkauft worden. Die Auswirkungen dieser Änderung auf das niederrangige Straßennetz hätte das Ministerium prüfen müssen, schrieb der Rechnungshof. Das Ministerium verneinte. Aus den der Umweltverträglichkeitsprüfung zugrunde liegenden Verkehrsprognosen für S1 und A23 bis 2035 ist die behauptete Entlastung allerdings nicht abzulesen – DER STANDARD berichtete.

Minimum 24.000 Fahrzeuge

Eine solche Strategische Prüfung ist übrigens auch in die andere Richtung notwendig, um die Voraussetzungen zu prüfen, ob eine Straße überhaupt ins hochrangige Straßennetz aufgenommen werden darf. Das wichtigste Kriterium dabei: das Verkehrsaufkommen. Diesbezüglich nahm es der Gesetzgeber in Österreich nie sehr genau, der von der Asfinag verwendete Richtwert von mindestens 24.000 Kfz pro Tag wurde oft nicht eingehalten.

Die Marchfeld Schnellstraße (S8), für die Niederösterreich nun kämpft, wurde laut Rechnungshof ins Bundesstraßengesetz aufgenommen, obwohl die Wirtschaftslichkeit der gewählten Variante niedriger war als jene der Alternativen. Auch Sensitivitätsanalysen und Risikoabschätzungen kamen zu kurz, was sich bei der Umweltverträglichkeitsprüfung rächte. Das Projekt ist laut Bundesverwaltungsgericht nicht genehmigungsreif.

Regional hochrangig

Der für die Landeshauptstadt St. Pölten wichtigen S34 Traisental Schnellstraße fehlt laut Rechnungshofsbericht überhaupt die Hochrangigkeit, sie diene ausschließlich der regionalen Erschließung. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist nur knapp positiv, lokale Umfahrungen hätten ein doppelt so hohes Nutzen-Kosten-Verhältnis.

Wie auch immer der nun anstehende Poker um alternative Varianten ausgehen wird, um die rasche Umsetzung der Beschleunigung und Intervallverdichtung im Straßenbahn- und Busnetz wird die Stadt nicht herumkommen. Barbara Laa, Verkehrsexpertin der TU Wien, empfiehlt dringend eine Redimensionierung der Straßenbauprojekte und einen zügigen Öffi-Ausbau. Dieser müsse lange vor der Fertigstellung allfälliger Straßenneubauten startklar sein, auf neue Straßen zu warten, bringe nichts, warnt Laa im Gespräch mit dem STANDARD. "Neue Straßen allein bringen keine Entlastung, das dauert auch viel zu lang."

Problemkreis Individualverkehr

Ziel der Verkehrspolitik müsse es sein, den Motorisierten Individualverkehr (MIV) zurückzudrängen, dann sei auch Platz für den Lieferverkehr. Den Ausbau des öffentlichen Verkehrs von der Realisierung eines Schnellstraßenprojektes abhängig zu machen, sei hingegen der falsche Weg, appelliert Laa. .

Wobei der Terminus MIV diesbezüglich eine sehr unscharfe Größe ist. Denn gemäß Mautregelung zählen beispielsweise Lieferwagen von Zustelldiensten nicht als Lkw. Sie zahlen keine fahrleistungsabhängige Autobahnmaut, sondern es genügt eine Pkw-Vignette. Genaue Angaben dazu müsste die Asfinag auf Knopfdruck haben, in den Einreichunterlagen für sämtliche Neubauprojekte finden sich diese Daten aber ebensowenig wie eine Aufschlüsselung des Schwerverkehrs auf der Südosttangente.

Transit oder Ziel-Quell-Verkehr?

Wie hoch der Anteil an Transit-Lkw ist, mit dessen Verlagerung der Bau der S1 ständig begründet wird, bleibt ein Geheimnis. Dies, obwohl der staatliche Straßenbauer im Zuge der Mauteinhebung sehr genau wissen müsste, welche Lkw über die Grenze kommen und durchbrausen und welche den sogenannten Ziel-Quell-Verkehr darstellen, also im Großraum Wien Waren und Güter liefern oder abtransportieren.

Stadtstraße durchziehen

Wie geplant durchziehen will Sima die Stadtstraße zwischen A23 Hirschstetten und Seestadt Aspern. Die dazugehörige Spange Aspern hat Gewessler zugesagt. Der Konflikt ist damit programmiert: Die Aktivisten an den Baustellen wollen nicht weichen, ehe auch die Stadtstraße fällt. (Theo Anders, Luise Ungerboeck, 3.12.2021)