Kurz beim Sprung an die Macht in der Wiener Stadthalle im Wahlkampf 2017: Welle der Euphorie in entrückter Atmosphäre.
Foto: Christian Fischer

Die Bilder zeugen von bedingungsloser Hingabe. Zehntausend Getreue sind gekommen, um ihren Star zu bejubeln. Spacige Lichteffekte verleihen der Szenerie einen entrückten Charakter, links und rechts der Bühne haben sich türkis uniformierte Claqueure aufgefädelt. Es fällt schwer, nicht an die Komparsen eines Sektenfilms zu denken.

Pompös wie noch nie hat die ÖVP den Auftakt zum Wahlkampf 2017 angelegt, Sebastian Kurz setzt zum Sprung an die Spitze an. Weit liegt das vermeintliche Jahrhunderttalent in Umfragen vorn, durch die vielgeschundene Partei schwappt Euphorie. Eine lange bürgerlich-konservative Ära, so scheint es, könnte die Schmach der roten Kanzlerschaften vergessen machen. Kurz als türkiser Kreisky.

Vier Jahre später ist die Chance vertan. Derselbe Anspruch der perfekten Regie, der Kurz groß gemacht hat, ebnete auch den Weg ins Aus. Zu viele Grenzen hat der Klüngel um den gefallene Helden überschritten, um die eigene Vision eines bis ins schmutzige Detail steuerbaren Aufstieges umzusetzen: wenn nicht juristisch, dann zumindest moralisch.

Dabei fallen erste Inszenierungsversuche nicht unbedingt ermutigend aus. Als gescheitert hat Kurz selbst einmal jene "Schwarz macht geil"-Kampagne bezeichnet, die ihm als Funktionär der Jungen ÖVP den Ruf des peinlichen Schnösels, aber zumindest Bekanntheit einbringt. Die Scharte ist rasch ausgewetzt. Als Integrationsstaatssekretär macht der damals 24-Jährige die Häme, die auch seiner Bestellung gefolgt war, vergessen. Der ausgewogene Ton, den Kurz auf diesem heiklen Terrain anschlägt, stößt selbst in so sensiblen Kreisen wie der Caritas auf Wohlwollen.

Jungpolitiker Kurz auf dem berüchtigten Geilomobil: Nach dem Eintritt in die Regierung war die Häme rasch verflogen.
Foto: Der Standard

Das sollte sich auf der nächsten Karrierestufe ändern. Im Dezember 2013 avanciert Kurz zum Außenminister, statt belächelt wird er nun bewundert, auch in Medien und Schwesterparteien im Ausland. Bereits ein Jahr später adelt ihn die Deutsche Presse-Agentur zu einem der großen Gewinner auf der politischen Weltbühne.

Ein Schlüsselerlebnis legt die Basis für den finalen Sprung. Die Bilder der unkontrolliert über Grenzen strömenden Flüchtlingen, die im Herbst 2015 so viele Bürger verstören, macht Kurz zum zentralen Motiv seiner Politik. Auch wenn sich der Andrang ohne das von seiner europapolitischen Rivalin Angela Merkel ausgehandelte EU-Abkommen mit der Türkei nicht nachhaltig hätte eindämmen lassen: Der Slogan von der (faktisch nie völlig gelungenen) Schließung der Balkanroute wächst zum künftigen Wahlkampfschlager. Welche Frage fortan auch zur Debatte steht, Kurz kratzt verlässlich die Kurve zum Leibthema der "illegalen Migration".

Mit Sabotage am Weg zur Spitze

Allein auf inhaltliche Überzeugungskraft verlässt sich Kurz nicht. Im Hintergrund bastelt die eingeschworene, von starkem Freund-Feind-Schema beseelte Gruppe um den Hoffnungsträger an einem Masterplan zur Machtübernahme in Partei und Republik. Teil des Konzepts ist, wie die im Zuge der laufenden Ermittlungen an die Öffentlichkeit gedrungenen Chatprotokolle belegen, Sabotage der vom Außenminister offiziell selbst mitgetragenen rot-schwarzen Regierung.

Dazu kommen jene Umtriebe, die Kurz vier Jahre später politisch das Genick brechen sollen. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wirft der türkisen Clique vor, im Dienst ihres Herren mit Steuergeld Gefälligkeitsberichterstattung in der Zeitung Österreich organisiert zu haben.

Als der zermürbte Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner im Mai 2017 hinschmeißt, ist die Gelegenheit gekommen. Kurz übernimmt die Partei nicht bloß, er unterwirft sie sich. Von der Postenbesetzung bis zum Koalitionsentscheid liegt das Durchgriffsrecht formell nun beim Bundesobmann, die mächtigen Ländervertreter wissen: Einen anderen Erfolgsgaranten haben sie nicht.

Das tat weh: Vor der Ablöse Reinhold Mitterlehners durch Kurz war Sabotage im Spiel.
Foto: Erwin Scheriau / APA / picturedesk.com

Dieser erfüllt die Erwartungen. Die gemessen am gesetzlichen Wahlkampfkostenlimit weitaus überteuerte Kampagne macht die ÖVP erstmals seit 2012 wieder zur Nummer eins. Nach blauen Positionen übernimmt Kurz nun auch die FPÖ als Koalitionspartner. Gegen "Rassismus" und "Sozialabbau" schreien Demonstranten am Tag der Angelobung an, doch der neue Kanzler bietet wenig Angriffsfläche. Natürlich betreibt seine Regierung auch Klientelpolitik, die vielbeschworene neoliberale Agenda zieht sie aber nicht durch. Weder Pensionen noch Staatsbetriebe tastet Kurz an. Das macht der SPÖ das Leben in der Opposition nicht unbedingt leichter.

Ideologisch flexibel präsentiert sich Kurz auch bei der nächsten Partnerwahl. Das Ibiza-Video hebelt Vizekanzler Heinz-Christian Strache aus dem Amt, wieder erkennt Kurz die Gelegenheit. Er kündigt die eben noch als "Erfolgsstory" gepriesene Koalition als Zumutung auf, holt bei der Neuwahl massenhaft FPÖ-Wähler ab – und schmiedet eine Regierung mit den Grünen. Abermals geht ein Raunen durchs konservative Europa: Der Sebastian kann offenbar auch Klimakanzler.

In der Pandemie reißt der Faden

Der Rest ist Ausnahmezustand. Zu Beginn der Corona-Pandemie blitzt noch einmal das Kommunikationsgenie des Sebastian Kurz auf. Geschickt hält er die Balance zwischen warnenden und hoffnungsfrohen Signalen – doch dann reißt der Faden. Nutzloser Aktionismus vom Massentest bis zur Sputnikimpfung wechselt sich mit unhaltbaren Verheißungen – "Pandemie gemeistert" – ab. Als das Land heuer zum zweiten Mal trotz reichlicher Vorwarnungen in eine desaströse herbstliche Covid-Welle taumelt, ist Kurz als Regierungschef bereits Geschichte. Nach immer neuen Vorwürfen aus Ermittlungsakten haben die Grünen seinen Abgang erzwungen.

Kurz beim Rücktritt am Donnerstag: Der scheidende Ex-Star räumte Fehler ein – wenn auch sehr vage.
Foto: Heribert Corn

Dass sich Kurz, wie seine Mitstreiter und er ohne Rücksicht auf das Ansehen der Justiz anprangern, als Opfer einer politisch motivierten Kampagne sieht, ist wohl nicht bloß kalkulierte Verteidigungsstrategie. Wer ihn kennt, weiß: Ungerecht behandelt fühlt er sich nicht erst, seit er im Visier der Ermittler steht – besonders wenn es um Medien geht.

Auch so gesehen war sein Abgang ein großer Schritt. Kurz sprach zwar nicht die Vorwürfe gegen ihn an, räumte aber doch ein, Fehler gemacht zu haben. Ein Geständnis, das mancher Fan wohl erst verdauen muss. (Gerald John, 3.12.2021)