"Beleidigt seit 1961": Die Stickbilder von Tex Rubinowitz waren im Sommer in der Galerie Crone in Berlin ausgestellt.

Ich habe einen Freund, er ist 91 Jahre alt, er heißt Daniel, mit ihm feiere ich seit vielen Jahren Weihnachten, in irgendeinem abgerockten chinesischen Lokal in unserer Nachbarschaft. Feiern im Sinne von Feiervermeidung. Früher war es besser, da durfte noch geraucht werden, da rauchten und tranken und aßen und kotzten die chinesischen Gäste über ihre Toleranzgrenze hinaus, und Weihnachten sind sie unter sich, weil ihnen unsere alberne Jesusfeier egal ist, das hatte alles seine gute, stimmige, unheilige Logik in dieser Heiligen Nacht für uns, kein atheistischer Plan, nichts Ironisches, einfach nur in Ruhe gelassen werden, inmitten fremder, fröhlicher Geräusche, das Gegenteil von einer dröhnenden Stillen Nacht.

"Beleidigt sein seit 1961": Das war eine Leistung.
Foto: Tex Rubinowitz

Einmal hab ich Daniel gefragt, warum er denn keine Kinder habe und ob er je welche gewollt hätte, er antwortete: "Um Gottes willen, dann seufzt irgendwann mal ein Sohn, der sechzig ist und mich kaum kennt, seinen vor lauter Leere schweren Kopf auf meine Schulter legend: "Ach Papa." Wie soll ich das interpretieren, soll ich ihm sein Taschengeld erhöhen? Ach müßig, wollen wir uns nicht lieber noch ein Tausendjähriges Ei bestellen?"

Und wir haben uns dann noch ein Tausendjähriges Ei bestellt und diesen billigen Schankwein, und dann ist Daniel selbst schlecht geworden, und ich hab ihm, nun ja, ein wenig beim Kotzen assistiert. Ich hab das mit dem inexistenten Sohn verstanden, denn auch ich habe weder einen Sohn, kann also diesbezüglich auch nur mutmaßen, noch weiß ich, wo mein Vater war, es ist alles schon so lange her, der nichtvorhandene Kinderwunsch und der gewünschte Vater, dessen Engagement und dessen Bild schon immer blass wie Sperrholz in Nebel war. Und nun bin ich selbst 60.

Eine willkürliche Zahl

Dekadengeburtstage sind nichts anderes als normale Geburtstage, die wiederum nichts anderes als normale Wochentage sind, eine willkürliche Zahl in einem kosmischen, undurchschaubaren Gefüge, dessen Anfang wir verpassen, und dessen Ende wir in der Regel nicht mitbekommen, Anfang und Ende als zwei Freunde, die sich gegen uns verschworen haben.

Solche "Erkenntnisse" sind so Plattitüden in einer Hilflosigkeit ("Miss the start miss the end, cause they’re such really good friends", The Sparks), um die man nicht viel Aufhebens machen müsste, wenn die Gesellschaft oder die kleinen Zettelchen in Glückskeksen es nicht täten, wie sie es bei Weihnachten und Jahreswechseln tun, statt diesen Quatsch einfach durchzuwinken, Motto: "So, hier hast du deine Geburtsurkunde, deinen Todestag kannst du hier unten eintragen, mach was draus, und wenn du nichts draus machst, ist das auch okay, fröhliche Weihnachten, du Frettchen."

Kürzlich hab ich Wetten, dass...? gesehen, nach zehn Jahren die Wiederaufnahme dieses fossilen Fernsehmöbels, Gottschalk hat das ganz gut gemacht, ich trank zwei Bier und aß dazu Erdnusslocken mit Erdnussgeschmack, Helene Fischer sang mit Björn und Benny von ABBA ein Lied, das Pretty Vacant von den Sex Pistols nicht unähnlich war, bitte jetzt nicht gleich schreien und hässliche Postings schreiben, es ist wahr, so steht’s im Lexikon: "Laut dem Bassisten und Komponisten Glen Matlock ist Pretty Vacant durch SOS von ABBA inspiriert."

Wahnsinnig uninteressant

Am nächsten Morgen wachte ich mit dem Traum auf, dass ich in zwei Minuten Großbritannien umschwimmen müsste, es war offenbar eine Wette bei Wetten, dass...?, während ich schwamm, dachte ich, das schaff ich nie, vielleicht hab ich mich verhört, und er (Gottschalk) meinte 20 Minuten, oder zwei Stunden, bis zum Ende der Sendung, ich kam nach Norden, nach Schottland also, und musste von der Westküste zur Ostküste zu Fuß gehen, weil es an der Spitze Schottlands zu stürmisch war, ich kam zu einer Art Fjord, das Wasser sah komplett anders aus, türkis, ich ging rein, okay, Hälfte hab ich also, jetzt nur noch nach Süden schwimmen, nur waren in dem Fjord lauter Wale, ich hatte zwar keine Angst, weil die ja nur Plankton fressen, aber ich dachte, sie zerquetschen mich, plötzlich kam Greta Thunberg ans Ufer, zog mich aus dem Wasser und sagte: "Låt bli att satsa, föreställningen är ändå redan slut, låt oss gå till ABBA-konserten." (Lass das mal mit der Wette, die Sendung ist sowieso schon vorbei, komm, wir gehen zum ABBA-Konzert.)

In Wirklichkeit bin ich nur während der Show eingeschlafen und aufgewacht, als Gottschalk verkündete, dass der Dartsspieler, der auf weißen Flächen mit seinen Pfeilen Kasachstan und Schottland finden musste, Wettkönig des Abends wurde, und Björn und Benny gar nicht Björn und Benny sind, ich hatte 50 Jahre lang immer Benny für Björn gehalten und andersrum, ich dachte immer, der Bärtige am Klavier ist Björn und das Milchgesicht ist Benny, außerdem fand ich immer Agnetha attraktiver als Frida, kein Junge hätte das damals je zugegeben, alle waren immer pro Frida, aber insgeheim pro Agnetha, aber das ist alles so wahnsinnig uninteressant, Frida oder Agnetha?

Ist da jemand?

Gottschalk oder die Wetten, ich schaue mich im Spiegel an und sehe niemanden, ich habe 60 Jahre gelebt, geschafft, um NICHTS zu sehen, ich weiß nicht, wer ich bin, was ich da mache, was ich bisher gemacht habe, alles ist so dermaßen irrelevant, vor einer Sekunde bin ich geboren, heute ess ich Erdnusslocken, morgen bin ich weg vom Spiegel, hallo? Ist da jemand, war da jemand?

Ich hab niemanden gesehen, nur einen Luftzug gespürt. Daniel? Wir schauen uns erschöpft an, was war das eben? Das Leben. Geh weiter, Leben, verzeih, dass ich dich belästigt habe. Ich versteh das Konzept des Tausendjährigen Eis, du isst es, und deine eigene Kleinheit wird amüsant, das Ei soll alles "aussitzen", als Stellvertreter, ich hab mit dem Chaos da draußen nichts zu tun und bin heilfroh, keinen Sohn zu haben, aber dafür einen Ersatzvater, der grad auf dem Klo kotzt und froh ist, keinen Sohn zu haben.

Wenn man etwas einfach und schnell kopieren kann, verliert es seine Kraft, einfach und schnell kaputtzugehen. So ein Satz, man überliest ihn schnell, in so einem Satz, da ist etwas drin, etwas irritierend Irrationales, den muss man erstmal sacken lassen, und das ist die Kunst, sowas herzustellen, so zu tun, als sagt man etwas, und tut es ja auch, sagt etwas, und dann rauscht das so aus, und dann denkt man, da war doch eben etwas, etwas hat nicht gestimmt, irgendwas entsprach nicht der heiligen Ordnung, irgendwas wollte mich irritieren, und sollte es wohl auch, aber dann ist der Satz auch schon wieder weg, macht Platz für einen weiteren, es geht ja immer weiter, man kommt nicht mehr zurück zum Anfang.

Wenn man den Satz nochmal aufwärmt, wird er muffig wie kalt gewordenes Sauerkraut, bekommt nicht mehr die Versprechung des Anfangs, die Unschuld, die Wirkung, und aufgeschrieben ist er noch viel pathetischer, ausgeblichener, weg ist er, die Zeugen werden alt.

Man bekommt eine Chance

"Ich bin einfach innen nicht genug ausgemalt", dachte ich, als ich mich im Spiegel sah, am Morgen nach der Nacht des Tages davor, als ich mich zwar wiedererkannte, aber nicht wusste, wer ich war, warum ich hier stand, warum ausgerechnet ich das sein sollte, der mich hier anstarrte, ratlos, zweifelnd, ungewaschenen Blicks, dreckig vom Traum, unfertig, eben nicht genug ausgemalt. Welche Farbe ist heute?

Man bekommt eine Chance und nutzt sie, die Chance des guten Lebens, die meisten stehen am Ende vor einem kleinen Haufen schlecht frisierter Bilanzen. Das soll ich gewesen sein? Das ist meine Spur, die ich hinterlassen habe? Dieses stumpfe Etwas, dieses ungelüftete Pathos, diese Reue? Mut antrinken mit Luftholen, betrunken von Ideen werden, die sich niemals realisieren lassen, Aneinandervorbeigehen in Städten, in denen der Kompass zittert.

Man sucht dann immer andere, die für einen denken, Entscheidungen treffen, scheitern, das Leben leben, das man sich nie traut zu leben und stattdessen Kompromisse eingeht, so viele, dass man selbst ganz zum Kompromiss wird, übersäuert bis zum Kinn, knietief in Kobras.

Wohliger Schauer

Wir entfernen uns von uns, in dem Moment unserer Geburt, damit wir wieder zu uns zurückkommen können, dieser wohlige Schauer der Rückkehr, nur ist dann ja nichts mehr da, wir finden uns nicht mehr wieder. Jeder versteht mich besser als ich, jede Interpretation meiner stimmt, die einzige, die nicht stimmt, ist meine eigene. Nähe ist nur in der Ferne wirklich nah, Distanz schafft Vertrauen, Nähe Stress und Sauerkraut.

Rubinowitz: "Vor einer Sekunde bin ich geboren, heute ess ich Erdnusslocken, morgen bin ich weg vom Spiegel, hallo?"
Foto: Hertha Hurnaus

Ich weiß nichts über mich, natürlich weiß ich, wer ich bin, aber ich weiß auch, dass ich am Ende noch viel weniger weiß. ETWAS zu wissen ist mitunter beruhigender als NICHTS zu wissen. Aber NICHTS sagen zu können ist häufig besser, als ETWAS sagen zu müssen. Das klingt jetzt ein bisschen billig nach Wittgensteingebimmel, also der unterbewusste Wittgenstein in uns allen, uns distinktiven Billigmenschen, die nichts zu sagen haben, es aber trotzdem tun, um dann noch während des Redens draufzukommen, man hätte es besser bleiben lassen sollen, man plappert sich um Kopf und Kragen, und es hilft nicht, dass man dann zur Entschuldigung sagt, das waren nur so metaphysische Geräusche wie das Rascheln der Bakterien oder das Knistern der Planeten im All, nein, stopp, das ist zu pathetisch, das steht mir nicht zu, das kann ich mir nicht leisten.

Also: Geräusche wie das Rascheln eines Igels im Laub und, äh, wenn man den Igel überfährt. Mit dem Unterschied, dass raschelnde und sterbende Igel so oder so nichts bereuen, den Luxus der Reue können sie sich gar nicht leisten.

Wir sausen aneinander vorbei

Ich bereue es nicht, mich nicht wirklich zu kennen, man verbringt eine gemeinsame Zeit miteinander, man ist so nett zueinander, wie es gerade geht, höflich, versucht es zumindest, und dann driftet man wieder auseinander, wir spielen überhaupt keine Rolle in einem Überschallgeschwindigkeitszug, der uns von da nach dort bringt, was wir nicht mal mitkriegen, wir sausen aneinander vorbei, für einen Moment hab ich mich gesehen oder mich verstanden, durchs Zugfenster, aber was spielt das für eine Rolle?

In dem Moment, wo ich an mich denke, ist dieser Gedanke, was ich sein könnte, bereits verpufft und abgelaufen, dass ich mir nicht mal mehr sicher bin, ob ich, ob EIN Ich überhaupt existiert, existiert hat und weiterhin existieren wird. Genauso gut könnte ich mir ein anders Ich konstruieren: Trinkt Bier, geht in Psychotherapie, hört ABBA, was spielt das alles für eine Rolle für ein Individuum in der Gruppe mit lauter ähnlichen Individuen, austauschbar wie alles, in der schmerzhaft lauten Kakofonie, die wir Leben nennen, in meinem lächerlichen Koordinatensystem? Wünscht man sich da nicht ein Ich weniger? Jedes Ich weniger ist ein gutes Ich? Oder andersrum: Es kann nicht genug von meiner Sorte geben?

Bin ich beeindruckt?

Interessiert es mein paralleles Ich, dass ich Dudelsack spiele? Bin ich beeindruckt? Beeindruckt mich vielleicht mehr, dass ich mir das mit dem Dudelsack nur ausgedacht habe? Ich hasse Dudelsäcke, sie nerven ohne Ende, lieber Zahnschmerzen als Dudelsäcke. Und dann sagt mein Ich, dass es eigentlich den warmen Klang von Dudelsäcken lieben würde, die Schreie der gequetschten Ziegenlederbälger, und ich sag dann: Ha, reingefallen, hab dich verarscht, ich liebe auch Dudelsäcke!

Dass wir dieses Spiel also spielen, immer weiter, wer hat die Macht, wer ist stärker, wer bestimmt die Regeln? Ich will das alles nicht, aber mache das Spiel trotzdem mit, und dann sagt das andere Ich, ABBA sei scheiße, nennt deren Musik "verchromte Sprühsahne", und ich sag, ja, genau: "Verchromte Sprühsahne", und merke, ich plapper mir alles nach, ich hab verloren, wie ich dauernd verliere, und das andere Ich fragt mich, weil es merkt, ich verrenne mich: "Chiquitita oder Fernando?" Und ich sag: Ich kann nicht mehr, ich bin erschöpft, kaputt, ich finde keine Ebenen, Subebenen und Metaebenen mehr, um mit dir zu kommunizieren, ich weiß nicht, was ich sagen soll, und es sagt, dann sag doch einfach mal GAR NICHTS, sag, dass du keine Meinung zu ABBA hast. Und ich sag: Ich trau mich nicht.

Und dann lacht es. Und ich weiß nicht mal, ob es mich auslacht oder ob das ein versöhnliches Lachen ist oder wieder nur ein Spiel, ein Angebot, dass ich reagieren soll. Zumindest weiß ich, dass ich in jedem Fall verloren habe.

"Welches Jahr haben wir?", fragt der ratlose, erstmalig vollkommen hilflose, alleingelassene Agent Cooper am Ende von Twin Peaks die nicht minder ratlose Laura Palmer, es gibt keine Antwort, nur einen markerschütternden Schrei aus einer Ritze der Zeit zwischen willkürlich festgelegten Zeiten.

Und in dieser Ritze sitze ich, eingequetscht, esse Erdnusslocken und Tausendjährige Eier, höre ABBA und bin zufälligerweise 60 geworden. Mein Beitrag dazu war so gering wie das Rascheln einer Bakterie in der Nacht. Ist das eine Leistung? Ja, es ist eine Leistung. (Tex Rubinowitz, ALBUM, 5.12.2021)