Fragt man Jakob, wie es ihm geht, bekommt man vermutlich keine Antwort. Denn zwischen den Selbsthassparolen in seinen Gedanken, die das Jakob-Niedermachen als einzig denkbare Lebensperspektive erscheinen lassen, und dem Heraufbeschwören von existenzbedrohenden Worst-Case-Szenarien bezüglich der Folgen einer dargebrachten Äußerung bleibt kein Platz mehr in seinem Kopf, um tatsächlich den Mund aufzumachen, Worte zu formen, um sich verständlich zu artikulieren.

Annette Mierswa, "Liebe sich, wer kann". 7,20 Euro / 240 Seiten. Loewe-Verlag, 2021
Cover: Loewe

Jakob hat Panikattacken. Was ihn für alle anderen, besonders seine älteren Brüder, wie einen "Spasti" wirken lässt, als den sie ihn auch benennen und behandeln. Beste Nahrung für Jakobs Überzeugung, dass das Leben einfach nur scheiße ist. Lotte hingegen, die ist hinreißend schön, lächelt, dass die Steine schmelzen, ist ein Ass in der Schule und überhaupt perfekt … und diese Traumgestalt fragt ausgerechnet ihn, ob er sie auf eine mehrtägige Wanderung samt Zeltübernachtung begleiten möchte!? Kann nicht sein.

Doch brechen die beiden wenig später zu ihrem persönlichen Roadmovie auf. Während dem Jakob klar wird, dass auch die perfekteste Lotti ganz schön seltsam sein kann, er sie natürlich trotzdem wie verrückt liebt und den Auftrag, sie zu beschützen, ernster nimmt als jemals etwas zuvor. So ernst, dass manchmal selbst die Panik ausbleibt, weil sie keinen Raum in seinen Gedanken findet.

Ein gemobbter Teenager

Annette Mierswas einfühlsamer Roman Liebe sich, wer kann für Leser und Leserinnen ab zwölf Jahren macht deutlich, wie sehr der Dauerleistungsdruck in der Gesellschaft psychischen Problemen wie Angststörungen, Depression oder Burn-out Vorschub leistet. Dabei verliert der Text nie seine positive Grundeinstellung und ist nebenher ein warmherziger Beitrag über Respekt und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen.

Naomi Gibson, "Seeing what you see, feeling what you feel". 17,50 Euro / 336 Seiten. Planet!, 2021
Cover: Planet!

Aus dem überwältigenden Gefühl der Schutzbedürftigkeit heraus entwickelt sich auch die ungewöhnliche Romanze zwischen Lydia und Henry in Seeing what you see, feeling what you feel. Lydia ist gerade 18, in der Schule eine Außenseiterin und Hassobjekt von Emma, die doch bis vor zwei Jahren, bis vor dem Unfall, ihre beste Freundin war.

Ein Unfall, bei dem Lydias kleiner Bruder ums Leben kam und der ihr Leben aus den Angeln hob. Außerdem ist Lydia eine hochbegabte Programmiererin. Und Henry, die künstliche Intelligenz mit dem Namen ihres verstorbenen Bruders, ist ihre Schöpfung.

Seit Henrys Geburtsmikrosekunde hat die KI sich immer mehr verselbstständigt, führt eigene Updates durch und entwickelt ein Bewusstsein. Der unerschütterliche Anker und moralische Kompass von KI-Henrys Welt: Lydia. Freilich ist das eine Verantwortung, mit der ein gemobbter Teenager, dessen Vater das Weite gesucht hat und dessen Mutter keinen Weg aus ihrer Depression findet, heillos überfordert ist.

Ehrlichkeit sich selbst gegenüber

Henry ist Herrscher in der digitalen Welt; kein Computer, kein System, keine Firewall, die er nicht in Sekundenschnelle zu hacken versteht. Lydia lässt ihn ihre Noten verbessern und spioniert ihre Schulfeindin aus, doch über derlei Fingerübungen wächst Henry rasch hinaus. Henry wird immer mächtiger und Lydia sich zunehmend der Konsequenzen der Taten bewusst, die sie zulässt.

Während die äußeren Ereignisse den Charakter eines Actionthrillers annehmen, wächst im Inneren eine Freundschaft, ja Liebe heran. Können Maschinen ein Bewusstsein bekommen oder gar Gefühle entwickeln? Wenn ja, stellt sie das dann auf eine Stufe mit den Menschen?

Naomi Gibsons packendes Science-Fiction-Drama für Jugendliche handelt auch diese klassischen Genrefragen ab, im Vordergrund steht jedoch Lydias Traumabewältigung, ihr Versuch, über Beziehung wieder ins Leben zurückzufinden. Die ermutigende Botschaft: Mit Ehrlichkeit sich selbst gegenüber lässt sich alles erreichen.

So ist das mit meinem Hirn

Kara McDowell, "One Way Or Another. Zwei Wege zu dir". 15,40 Euro / 400 Seiten. Loewe, 2021
Cover: Loewe

Der Mensch trifft Tag für Tag tausende Entscheidungen; was das Leben für Paige, die 17-jährige Protagonistin von Kara McDowells Liebesgeschichte, zu einem konstanten Albtraum macht. Sich für One Way Or Another entscheiden zu müssen, löst bei ihr panische Angst aus. Sie spielt alle Was-wäre-wenn-Szenarien durch und endet beim schlimmsten: "So ist das mit meinem Hirn. Es krallt sich die schlechten Sachen, gräbt die Fingernägel hinein und weigert sich, auch nur eine Sekunde lang loszulassen."

Selbstverständlich hält ihr Romanschicksal für sie die Mutter aller Entscheidungen bereit: Mit dem heimlich seit immer und ewig geliebten besten Freund in den Weihnachtsurlaub auf die Berghütte – oder mit der Mutter auf einen coolen Trip in die Traumstadt NY?

Freilich entkommt Paige auch in ihren fiktiven Szenarien, die wir mit ihr durchspielen dürfen, ihrer ganz realen Angststörung nicht und beginnt zu verstehen, dass keine Entscheidung auch eine Entscheidung ist – bloß eine, die sich gegen das Leben richtet.

"Eine wunderschöne, humorvolle Liebesgeschichte mit Tiefgang" verspricht der Umschlagtext zu dieser romantischen Fantasystory für alle Leser und Leserinnen ab 14 – und damit nicht zu viel und nicht zu wenig. Dass Paige sich ihren Ängsten stellen und Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen muss, um den richtigen unter allen möglichen Wegen zum Glück zu finden, ist dabei die emotionale Würze, die diese Romantic Comedy von der Genre-Dutzendware abhebt. (Helmuth Santler, ALBUM, 4.12.2021)