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"Ab und zu sprach ich mit meiner Therapeutin über die Welt und mein Leben. Oder wir schwiegen uns an."

Foto: Getty Images / Elva Etienne

In wie viele Gesichter kann der Mond eigentlich gleichzeitig scheinen? Und wie weit ist es noch bis morgen? Oder anders gefragt: Waren Sie schon einmal in der Psychiatrie? Kennen Sie die Gerüche dort, die Ängste und Ängstlichen und auch die Furchtlosen? Wissen Sie, wie es ist, wenn man Windstille in den Händen hält und sich dabei so fühlt, als wäre man aus allen Wolken gefallen und noch immer nicht gelandet? Und haben Sie dort auch den Pfau im Baum gesehen, den man, wenn man lange genug hinschaut, sogar schreien hört? Manchmal schlägt er auch ein Rad.

Ich war vielleicht 16 Jahre alt, als es in mir anfing. Ein Jahr später wurde ich für ein paar Monate in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Klagenfurt gesperrt. In die Heilpädagogische Abteilung, wie sie damals noch hieß. Wegen Anorexia nervosa und Bulimia nervosa, Station B. Die Türen und Fenster dort waren verriegelt. Niemand konnte hinaus, hinein nur auf ausdrücklichen Wunsch.

Aufwärts schlucken

Immer wieder hörte ich, wie sie schrien, draußen und drinnen, die Kranken, die Kinder. Sie schrien um Hilfe, schrien sich zu, sie schrien sich an, schrien um ihr Leben. Wenn sich nämlich die Zähne am Speichel verbeißen, muss man beginnen, aufwärts zu schlucken. Schlucken und schreien.

Die Schwestern und Pfleger und Ärzte schauten ihnen zu, spritzten Beruhigung, aber keiner von ihnen und den anderen, den Zuschauern, Beobachtern, Zaungästen erlöste sie vom Schreien, keiner brach ihr Leiden, ihr Kreuzverhör.

Sie schrien immer, jeden Tag schrie irgendwer, nur ich schrie nie. Statt zu schreien, dachte ich an die Märchen meiner Kindheit, an den Blaubart und die bösen Feen. Schlief Rapunzel noch in ihrem Bett, und war Dornröschen bereits tot? Das waren meine Schreie, ein schüchternes Innehalten, ein banges Versinken in mich selbst. Aber wie sollte ich dort noch an Märchen glauben können?

Ich spielte nichts, ich malte nichts

Die Kinder auf der Station spielten mit den Fingerpuppen, die überall herumlagen, dann waren sie der Wolf oder das Rotkäppchen oder das Krokodil und fraßen alle anderen auf. Die Kinder auf der Station spielten auch mit dem Puppenhaus, mit Legosteinen und mit Matador, dann bauten sie Dörfer, Städte, ganze Welten. Oder einen Panzerwagen, eine Straßenwalze, die über die Dörfer, Städte, Welten rollten. Zwischendurch malten sie, malten Sternschnuppen, die wie Drachen ausschauten, oder sie malten Vater-Mutter-Kind, die ebenfalls wie Drachen ausschauten.

Ich spielte nicht und malte nichts, sondern fürchtete mich vor den schwarzen Flecken unter meinem Kopf, die nur ich sah und die nur ich hörte, wenn sie laut wurden. Weh taten sie auch nur mir, und es war schwer, sie zu erklären, deshalb aß ich fast nichts mehr oder aß viel zu viel und erbrach wieder alles mitsamt der Leere und den Hass auf mich. Alles in mir war so widersprüchlich wie Frühling, Herbst, Schatten, Nacht.

Hell und schwarz

Am schlimmsten waren die Nächte, sie waren zugleich hell und schwarz und waren kein Tiefschlaf, sondern ein Wasserfall, ein Schmerz und der Schrei in einem Gebet. Und sie kreisten wie der große Vogel, der nicht der Pfau im Baum war, sondern wie ein Gespenst aus dem Nichts kam und nicht komplett schwarz war, sondern an den Flügeln brannte und diese zwei verschiedenen Augen hatte, die sich nicht farblich, sondern von der Größe her unterschieden, über mich wie über einen Kadaver. Dann schaute ich auf und überlegte, aus welcher Richtung das Verdrängen kam.

Ab und zu sprach ich mit meiner Therapeutin über die Welt und mein Leben. Oder wir schwiegen uns an. Die Luft in dem Zimmer war unangenehm, stickig und schlecht vor zornig ausgestoßenem Atem, Tränen und Schweiß.

Der Teppich, der, in der Mitte des Zimmers liegend, die Beine des Schreibtisches fast berührte und ein solch ungleichmäßiges Muster hatte, dass es mir nie gelang, eine Ordnung hineinzubringen, lag in einer Art und Weise da, die zur Therapeutin passte, nämlich verstaubt, verblasst und abgetreten.

Schamlosigkeit

Einmal wurde ich auf der Station aufgefordert, mich nackt filmen zu lassen. Man erklärte mir, dass das die neuesten Erkenntnisse seien, Mädchen, die anorektisch sind, nackt zu filmen, damit diese einen anderen Bezug zu ihrem Körpergefühl bekommen.

Aber was ist das für ein anderer Bezug zum Körpergefühl? Sich von fremden Menschen nackt filmen zu lassen und sich dann mit fremden Menschen nackt anzusehen? Wie buchstabiert man dieses Körpergefühl?

Die Schamlosigkeit, mit der in diesem Fall mit dem Schamgefühl von Mädchen umgegangen wird, ist beschämend und schlecht, und hinterher sticht das Rosenbild in den Dornen auch nicht mehr, wenn sich die Zähne am Speichel verbeißen. (Andrea Drumbl, ALBUM, 4.12.2021)