Ein vorerst letztes Mal war Sebastian Kurz bei seiner Rücktrittsrede am Donnerstag umringt von Medienvertretern.

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Es schien wie ein Abgang auf Raten – dann ging es überraschend schnell: Am Donnerstag trat Altbundeskanzler Sebastian Kurz auch von seinen verbliebenen Ämtern als ÖVP-Bundesparteiobmann und -Klubobmann zurück. Als Grund führte er seine Familie, seinen neugeborenen Sohn an. Unerwähnt ließ er die Ermittlungen gegen ihn wegen möglicher Falschaussagen vor dem Ibiza-U-Ausschuss oder die schwerwiegenden Vorwürfe in der Inseratenaffäre. Vielmehr konnte sich Kurz des Eindrucks nicht erwehren, öffentlich "gejagt" worden zu sein: von Medien, der Justiz, der Opposition, wie er schon zuvor öfters behauptet hatte.

Der deutsche Medienwissenschafter Bernhard Pörksen erklärt im Gespräch mit dem STANDARD, warum er von der Existenz einer Jagdgesellschaft nichts hält und was der ÖVP-Politiker mit einem Chamäleon gemein hat.

STANDARD: In seiner Rücktrittsrede sprach Sebastian Kurz von dem Gefühl, durch die ständige Beobachtung und Kritik durch Medien gejagt worden zu sein. Was ist an diesem Vorwurf dran?

Pörksen: Nichts. Aber hier zeigt sich das strategische Geschick des Ex-Kanzlers wie unter einem Brennglas. Die rhetorische Strategie besteht darin, das eigentliche Thema seines sehr speziellen Verhältnisses zu den Boulevardmedien zu verschieben. Über seine Karriere hinweg war nicht das Paradigma der Jagd bestimmend, sondern das andere Extrem – das öffentliche und das private Kuscheln mit ihm gewogenen Journalistinnen und Journalisten. Getauscht wurden dabei Intimität und Information gegen Publizität. Kurz und knapp: Was Sebastian Kurz hier macht, könnte man die Strategie der Themenverschiebung und der präventiven Einwandsbehandlung nennen.

STANDARD: Was heißt das konkret?

Pörksen: Natürlich weiß Kurz, dass im Zuge der Aufarbeitung sein Nah- und Kuschelverhältnis zu einzelnen Medienhäusern ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Deshalb stilisiert er sich zum Gejagten, tauscht also das Beziehungsmodell unter der Hand aus und bedient eine in manchen Milieus ohnehin verbreitete Medienverdrossenheit. Ich muss zugeben: Mir nötigt so viel Unverfrorenheit fast Respekt ab. Strategisch ist das meisterhaft.

Bernhard Pörksen hält den ehemaligen Kanzler für ein Boulevardtalent.
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STANDARD: Hätten "die Medien" denn so viel Macht, Kurz erst hoch- und später runterzuschreiben?

Pörksen: Natürlich wird jetzt – im Moment des Rückzugs und vor dem Hintergrund der offen zutage liegenden Chat-Peinlichkeiten – auch massiv attackiert. Das ist publizistische Normalität, vielleicht auch dadurch befeuert, dass der ein oder andere Boulevardjournalist sich nun als Ausweis seiner Unabhängigkeit in besonderer Schärfe abgrenzen muss. Aber aus meiner Sicht war Sebastian Kurz eine absolute Ausnahmeerscheinung: ein Boulevardtalent, in der Lage, Medieneffekte umfassend zu prophezeien und mit ihnen zu spielen.

STANDARD: Können Sie diesen Punkt genauer erläutern?

Pörksen: Sehen Sie, unter Kybernetikern kursiert seit langem ein altes Rätsel. Es lautet: Was passiert mit einem Chamäleon, das man auf einen Spiegel setzt? Welche Farbe nimmt es an? Das Interessante an diesem Gedankenexperiment: Chamäleon und Spiegel befinden sich in einem Prozess fortwährender Rückkopplung, sie verschmelzen zu einem System der nicht mehr zuzuordnenden Dauerreflexe. Diese kleine Parabel zeigt für mich die eigentümliche Genialität von Sebastian Kurz. Er konnte und kann mediale Spiegelungseffekte wie kaum jemand sonst vorwegnehmen und sie in seine Äußerungen und Handlungen integrieren. Was vielleicht manchen als seine Reaktion erscheint, ist in Wahrheit womöglich die Vorwegnahme eines Spiegelbilds, das er überhaupt erst erzeugt und real werden lässt. Das ist in dieser Dimension wirklich neu.

STANDARD: Der Begriff der Message-Control in der Medienberichterstattung wurde unter der Regierungsarbeit von Kurz geprägt. War diese zum Schluss außer Kontrolle?

Pörksen: Ja, aber der eigentliche Kontrollverlust ist früher anzusiedeln. Er beginnt mit den veröffentlichten Chat-Protokollen, die ein einigermaßen düsteres Sittenbild offenbaren. Man sieht hier: Die meisten Menschen sind blind für die mögliche Zukunft ihrer Chat-Botschaften. Sie können sich schlicht nicht vorstellen, in welchen neuartigen, peinlichen oder beschämenden Kontexten diese beweglichen, leicht kopierbaren Daten und Dokumente eines Tages zu ihnen zurückkehren. Die präzise Dokumentation des Materials macht – ähnlich wie das Ibiza-Video – die versuchte Message-Control zunichte.

STANDARD: Was bleibt rückwirkend von der Kanzlerschaft Kurz aus deutscher Außensicht – politische Inhalte oder Marketing?

Pörksen: Als schlecht verkappter Idealist kann ich nur sagen: hoffentlich die Einsicht, wie gefährlich das Marketingdenken für die Inhalte ist. (Davina Brunnbauer, 3.12.2021)