Synästhesie nennt man die Verschränkung von Sinneswahrnehmungen. Marc vom Ende zum Beispiel sieht Gerüche räumlich vor sich.

Foto: Symrise

Marc vom Ende arbeitet für Symrise, den deutschen Marktführer für Duft- und Aromaentwicklung. In seinem Büro samt Minilabor empfängt er zum Interview. Es riecht nach Vanille, im Hintergrund läuft Jazzmusik.

Während des Gesprächs rollt der Parfümeur, der seit einem Motorradunfall 2011 im Rollstuhl sitzt, immer wieder an die Duftorgel und lässt an verschiedenen Essenzen riechen.

Marc vom Ende arbeitet für Symrise, den deutschen Marktführer für Duft- und Aromaentwicklung.
Foto: Joshua Kocher

STANDARD: Herr vom Ende, muss man für abstrakte Duftaufträge wie "New York an einem regnerischen Nachmittag" oder "eine Meeresbrise im Pinienhain" ständig auf Reisen sein?

Marc vom Ende: Das habe ich alles im Kopf. Ich muss nur schon mal eine Meeresbrise und Pinien gerochen haben. Dann überlege ich, wie ich diesen Effekt erzielen kann.

STANDARD: Sie fangen Meeresluft ein und mischen Pinienöl bei?

Vom Ende: Nein! Für die Meeresbrise versuche ich mit Dihydromyrcenol eine wässrig-frische Note einzubringen und mit Florazon eine ozonige Leichtigkeit zu schaffen. Für den Pinienduft benutze ich eher Stoffe, die in der Kombination Pinie ergeben. Pinienöl allein würde nur nach Sauna riechen. Deswegen kommen da Ambrocenide für die ambrisch-holzige Note rein, Cis-3-Hexenol für eine Grün-Note, und Thymol sorgt für das Würzig-Aromatische. Diese Kombination verschiedener Stoffe nennt man Akkord. Ein schönes Beispiel dafür ist: Wenn ich den Duft von frisch gemähtem Gras mit Zuckerwatte mische, ergibt das Erdbeere.

STANDARD: Wie kommen Sie auf so was?

Vom Ende: Durch Ausprobieren, das kann man nicht vorhersagen. Dafür sind Düfte zu komplex. Wir haben 350 Geruchsrezeptoren in der Nase, die miteinander agieren. Total verrückt, was da abgeht, nicht mal die Forschung versteht das richtig. Schauen Sie, ich will Ihnen mal etwas zeigen.

[Marc vom Ende kramt eine Schachtel mit Duftrohstoffen aus einem Regal, zieht zwei Fläschchen heraus und tunkt Riechstreifen hinein.]

Vom Ende: Das eine ist Zimtrindenöl, das andere destillierte Limette. Und jetzt riechen Sie mal an beidem gleichzeitig.

STANDARD: Cola!

Vom Ende: Sehen Sie, das ist das Faszinierende.

STANDARD: Haben Sie denn ein Bild im Kopf, wenn Sie Düfte kreieren?

Vom Ende: Ich sehe den Duft oft räumlich vor mir, wie eine Skulptur. Synästhesie nennt man das: Manche Musiker sehen zum Beispiel Farben, wenn sie eine bestimmte Melodie hören.

STANDARD: Beschreiben Sie die frische Meeresbrise im Pinienhain.

Vom Ende: Das ist eine Skulptur mit vielen Piksen und stacheligen Teilen, die aus einer Masse heraustreten.

STANDARD: Ein kleines Experiment: Wir sagen Ihnen einen Begriff und Sie machen uns daraus einen Duft. Ein Baggersee.

Vom Ende: Da denke ich sofort an kaltes Wasser, das ein bisschen grünalgig ist. Da kann man Farenal oder Mefranal benutzen, das beides leicht blumig riecht. Und ich habe den mineralischen Sand im Kopf. Dafür könnte man in die moosige Richtung gehen. So was wie Evernyl, einen Extrakt aus Eichenmoos.

STANDARD: Und ein Sonnenaufgang?

Vom Ende: Ich spüre die morgendliche Kühle, die könnte ich zum Beispiel mit Zitrus gut darstellen. Und insgesamt würde ich mit heller und frischer Blumigkeit arbeiten. Bei einem Sonnenaufgang habe ich übrigens keine Skulptur im Kopf, sondern mir schwebt ein konkretes Bild vor.

STANDARD: Und bei abstrakten Begriffen wie dem Weltall?

Vom Ende: Das ist ein Haufen eckiger Stangen, wie bei Mikado. Klar, das Weltall riecht nicht, aber wenn ich einen Duft kreieren müsste, wäre er metallisch.

STANDARD: Wie wird daraus dann ein Duft?

Vom Ende: Ich notiere eine Strukturformel und schicke sie nach Holzminden in unser Labor. Dort werden die Rohstoffe zusammengemischt. Das können zwischen 20 und 80 verschiedene Elemente sein. Der Duft wird dann in den Klostein, den Weichspüler oder was auch immer eingearbeitet. Ein Kollege, Evaluator genannt, der in diesem Gebiet spezialisiert ist und die verschiedenen Absatzmärkte kennt, riecht daran. Wenn Sie zum Beispiel ein grünes Geschirrspülmittel in Italien auf den Markt bringen, dann sollte es nach Fichte riechen. In Deutschland dagegen eher nach Aloe vera. Zu intensiv sollte der Geruch auch nicht sein. Ein frühlingshafter Weichspüler etwa soll ja nicht wie eine blühende Wiese riechen, sondern auch nach frischer Wäsche. Sonst versteht der Verbraucher das nicht.

STANDARD: Ihr Arbeitgeber behauptet, man komme bis zu 30-mal am Tag mit seinen Aromen und Düften in Kontakt. Gleichzeitig gibt es auf der Welt weniger Parfümeure und Parfümeurinnen als Astronauten und Astronautinnen – Sie müssen wahnsinnig produktiv sein.

Vom Ende: Ich entwickle pro Jahr durchschnittlich 1500 Düfte.

STANDARD: Das sind ja sechs oder sieben Düfte am Tag.

Vom Ende: Nicht alle davon kommen auf den Markt, viele bekommen aber eine Verkaufsnummer und werden unseren Kunden angeboten.

STANDARD: In Ihren 33 Jahren bei Symrise müssen Zehntausende Düfte entstanden sein. Gibt es einen, auf den Sie besonders stolz sind?

Vom Ende: In den 1990er-Jahren habe ich für Garnier ein Shampoo kreiert, das nach Grapefruit roch. Das kannte man damals noch gar nicht, denn alles, was irgendwie zitrisch roch, duftete nach Orange oder Zitrone. Ich habe die Grapefruit groß gemacht. Der Duft war in ganz Europa erfolgreich, und wenn ich danach an anderen Düften gerochen habe, dachte ich mir immer: Das ist doch jetzt dein Duft, den die nachgemacht haben.

STANDARD: Macht Sie das sauer?

Vom Ende: Nein, das war ein Ritterschlag. 1988 hat Pierre Bourdon für Davidoff den Duft "Cool Water" herausgebracht. Der ist bis heute unter den zehn meistverkauften Parfums in Deutschland und wird dauernd kopiert. Jedes blaue Duschgel, jeder blaue Reiniger und jeder blaue Klostein ist heutzutage ein "Cool Water".

STANDARD: Parfümeure sind im Grunde Ghostwriter. Ärgert es Sie, wenn auf einem Flakon Calvin Klein steht, obwohl Sie den Duft eigentlich kreiert haben?

Vom Ende: Nein, das ist großartig. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wenn ich ein so bekanntes Gesicht wie Madonna hätte.

STANDARD: Fühlen Sie sich denn wie ein Künstler?

Vom Ende: Meine Düfte sind Produkte, die verkauft werden müssen. Aber es ist schon eine Kunst, sie zu entwickeln.

STANDARD: Kreieren Sie auch Düfte, die Sie gar nicht verkaufen wollen?

Vom Ende: Nach einem Motorradunfall lag ich 2011 mehrere Monate im Krankenhaus. Eine Paranoia hat mich glauben lassen, die würden mir meine Organe stehlen. Das war sehr traumatisierend. Zu Hause an der Duftorgel habe ich das Erlebnis in einem Duft verarbeitet. Er heißt "l’Hôpital d’enfer", das Krankenhaus der Hölle. Da haben Sie die Bissigkeit des Desinfektionsmittels drin, aber auch die Blumigkeit der Krankenschwester. Mich reizt es auch, den Geruch von Sachen zu interpretieren, die eigentlich nicht riechen. Letztens habe ich versucht, Radioaktivität darzustellen, das knistert richtig metallisch in der Nase.

STANDARD: Als der wohl berühmteste Parfümeur, Jean-Baptiste Grenouille aus Patrick Süskinds Roman Das Parfüm, sich das erste Mal frei durch Paris bewegt, entdeckt er die Stadt mit der Nase, nicht mit den Augen – machen Sie das auch so?

Vom Ende: Ich finde es faszinierend, wie unterschiedlich Städte riechen. Das merke ich oft in der Metro. In Paris tragen die Leute viel mehr Parfüm als in Berlin. Außerdem hat die Pariser Metro Gummireifen, dadurch riecht es nach Plastik, gummiartig. Die Berliner U-Bahn dagegen hat etwas Metallisches, Brenzliges. Das muss an den Bremsen liegen. Interessanterweise riechen die genauso wie in Stockholm.

STANDARD: Ihre sensible Nase macht Sie im Alltag doch sicher manchmal verrückt.

Vom Ende: Für mich sind Gerüche eigentlich nie unerträglich. Wenn es in der Pariser Metro nach Pisse stinkt, finde ich das spannend. Solche animalischen Elemente benutzt man auch in Parfüms. Früher hat man dafür manchmal das nach Fäkalien riechende Sekret einer Zibetkatze genommen. Man kann nicht einfach nur wohlriechende Sachen zusammengießen, es braucht schon einen Haken, damit die Leute ein Parfüm sexy finden.

STANDARD: Bei der Partnerwahl ist Geruch entscheidend. Kann ich bei meinem Partner oder meiner Partnerin erschnuppern, ob es die große Liebe ist?

Vom Ende: Am Geruch merkt man eher, wenn es nicht passt. Dafür muss man beim Partner nicht mal unter der Achsel schnuppern, unsere Nase kann das auch auf Distanz. Den Körpergeruch kann das beste Parfum nicht überdecken.

STANDARD: Wenn Grenouille sich also in Das Parfüm einen Duft schafft, der so universell schön ist, dass ihm alle zu Füßen liegen, ist das unmöglich ...

Vom Ende: ... und zwar schon allein deshalb, weil jeder seine subjektiven Erfahrungen mit Düften gemacht hat. Nicht jeder fährt auf das Gleiche ab.

Unter anderem hat Marc vom Ende Düfte für Daimler entwickelt, die je nach Stimmung im Innenraum der S-Klasse versprüht werden können.
Foto: Symrise

STANDARD: Noch Jahre später kann einen das Parfüm eines Passanten, einer Passantin in vergangene Zeiten zurückbeamen. Düfte haben offenbar eine unterschwellige Macht über uns.

Vom Ende: Weil Gerüche direkt im Gefühlskern des Gehirns landen, in der Amygdala. Da kann man sich gar nicht dagegen wehren. Alle kulinarischen und emotionalen Erlebnisse speichern wir über den Geruch ab. Ohne Riechen haben wir nur noch ein Leben in Schwarz-Weiß, und Beziehungen verlieren letztendlich an Emotionalität, wenn sie zu Zweckgemeinschaften werden.

STANDARD: Trotzdem wird das Riechen unterschätzt. Vor zehn Jahren zeigte eine US-Studie, dass mehr als die Hälfte der 16- bis 22-Jährigen eher auf ihren Geruchssinn als auf Laptop oder Handy verzichten würden.

Vom Ende: Weil er eben so unterbewusst stattfindet. Deswegen glauben viele, das Riechen sei nicht so wichtig. Die würden es spätestens dann feststellen, wenn sie es verlieren – wie durch eine Corona-Erkrankung.

STANDARD: Ihre Branche macht sich das Unbewusste zum Geschäftsmodell: Reisebüros duften nach Sonnenmilch, damit mehr Menschen nach Ibiza fliegen. Finden Sie das verwerflich?

Vom Ende: Ich lehne es ab, Menschen in der Öffentlichkeit Düften auszusetzen, damit der Umsatz steigt. Wenn man selber auswählen kann, was man riecht, finde ich das aber in Ordnung. Für Daimler habe ich mal Düfte entwickelt, die je nach Stimmung im Innenraum der S-Klasse versprüht werden können.

STANDARD: Der bekannteste Geruchsforscher Deutschlands, Hanns Hatt von der Ruhr-Universität Bochum, rät zu täglichem Riechtraining.

Vom Ende: Ich ziehe mir morgens blind ein Set von fünf oder zehn Rohstoffen aus der Duftschachtel und versuche zu erraten, was ich rieche. Das aktiviert den Riechkolben und stimuliert das Gehirn. Das kann jeder zu Hause trainieren, einfach blindlings ins Gewürzregal greifen und überlegen: Rieche ich Majoran oder Oregano? Mit solchen Übungen können sich Menschen nach einer Corona-Erkrankung übrigens ihren Geruchssinn wieder antrainieren.

STANDARD: Verraten Sie bitte Ihre Riechtechnik!

Vom Ende: Ich rieche nur einmal kurz und konzentriert, ziehe den Streifen sofort wieder weg. Ansonsten wird meine Nase schnell resistent gegen den Duft, und ich rieche gar nichts mehr. Das wiederhole ich einmal mit geöffnetem und einmal mit geschlossenem Mund, so entsteht noch mal ein anderes Aroma.

STANDARD: Herr vom Ende, Sie sagten, ein guter Parfümeur kreiert im Kopf, nicht an der Duftorgel. Stellen Sie sich vor, Sie bekommen Corona und riechen nichts mehr.

Vom Ende: Das wäre zwar dramatisch, und ich wäre sehr frustriert, aber ich könnte trotzdem noch weiterarbeiten. Nur würde ich meine Kreationen nicht selbst überprüfen können. Der berühmte französische Parfümeur Jean Carles war im hohen Alter geruchsblind, hat aber trotzdem noch Parfüms kreiert, die auch auf den Markt kamen. So wie Beethoven seine 9. Sinfonie taub komponiert hat.

STANDARD: Mal ernsthaft: Das ginge?

Vom Ende: Ich arbeite ja im Grunde heute schon geruchsblind. Meine Rezepturen werden in Holzminden gemischt und evaluiert. Manchmal kommen meine Düfte auf den Markt, ohne dass ich sie je gerochen habe. (Yves Bellinghausen, RONDO, 23.12.2021)