"Anscheinend sind wir nicht fähig, Impfstoffe mit anderen Ländern zu teilen", kritisiert Florian Krammer – hier vor dem Eingang zur Icahn School of Medicine.

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Seit die Welt vor bald zwei Wochen durch Wissenschafter aus Südafrika und Botswana von der neuen Coronavirus-Variante Omikron erfahren hat, herrscht Verunsicherung. Wie geht es weiter? Stehen uns neue starke Infektionswellen und strenge Gegenmaßnahmen bevor, durch ein neues Virus, gegen das die Impfstoffe vielleicht adaptiert, neu produziert und verteilt werden müssen?

Laut Florian Krammer, dem österreichischen Professor für Impfstoffkunde an der renommierten Icahn School of Medicine am Mount Sinai Hospital in New York, sind die Aussichten durchwachsen.

STANDARD: Die derzeit große Unbekannte in der Corona-Pandemie ist Omikron. Was weiß man inzwischen über diese Variante?

Florian Krammer: Nach wie vor sehr wenig. Wenn man sich die Sequenz des Virus anschaut, sieht man, dass alle Stellen an die neutralisierende Antikörper am Oberflächenprotein binden, verändert sind. Daraus lässt sich schließen, dass es sich bei Omikron um eine sehr starke Fluchtmutante handelt. Aber darüber kann man nur spekulieren, denn wir haben noch keine Daten, die wird es wahrscheinlich innerhalb der kommenden zehn Tagen oder so geben. Ich nehme aber an, dass es bei der neutralisierenden Aktivität von Seren von Genesenen und Geimpften starke Einbußen gibt, dass also die Titer gegen Omikron ziemlich stark reduziert sein werden. Da gab es ja schon bei der Delta-Variante eine leichte Reduktion. Für Leute mit einem Booster und für Genesene, die später vollständig geimpft wurden, schaut es aber wahrscheinlich auch gegen Omikron ein bisschen besser aus.

STANDARD: Was heißt das für die derzeit verwendeten Impfstoffe? Wie viel Resteffektivität werden sie haben?

Krammer: Da gehen die Schätzungen weit auseinander. Es kann sein, dass die Vakzine auch bei Omikron gegen schwere Verläufe gut wirken. Wenn das der Fall ist, sehe ich kein großes Problem. Es kann aber auch sein, dass der Schutz gegen schwere Verläufe substanziell abnimmt. Das ist der Knackpunkt, dann brauchen wir einen angepassten Booster.

STANDARD: Wie lange müssten wir in diesem Fall auf neue, wirksame Vakzine warten?

Krammer: Moderna hat angekündigt, sie könnten theoretisch im kommenden März liefern. Das hängt aber nicht nur von den Firmen ab, sondern auch von den Zulassungsbehörden. Die müssen jetzt definieren, wie der Zulassungsprozess für ein angepasstes Vakzin aussehen muss, welche Daten man braucht, und inwieweit zusätzliche klinische Studien notwendig sind. Wenn umfassende klinische Studien benötigt werden, würde es natürlich länger dauern. Würde man vorgehen wie bei den Influenza-Vakzinen, wo nur der Stamm oder die Sequenz angepasst wird und keine klinischen Studien für den angepassten Impfstoff notwendig sind, wäre die Wartezeit kürzer. Rein technisch kann ein angepasstes Vakzin im Prinzip übrigens innerhalb von Tagen hergestellt werden.

STANDARD: Ist es für Sie angesichts von Omikron eigentlich überraschend, dass sich das Virus derart verändert hat?

Krammer: Leider halte ich bei SARS-CoV-2 mittlerweile alles Mögliche für möglich. Mit derart zahlreichen Mutationen wie etwa bei Omikron hat keiner gerechnet. Solche stark mutierten Viren entstehen zum Beispiel in manchen immunsupprimierten Menschen. Da kann die SARS-CoV-2 Infektion länger dauern, manchmal Monate lang. Und da kann das Virus stark mutieren. Man hat solche Fälle dokumentiert, aber meistens breiten sich diese Mutanten dann nicht aus. Omikron könnte auch so entstanden sein, hat es aber leider geschafft, sich auszubreiten. Unklar ist übrigens auch, wie lange Omikron unter dem Radar geflogen ist. Zwar wurde die Variante erst letzte Woche in Südafrika, Botswana und Hongkong identifiziert, aber sie hat sich schon vorher ausgebreitet, wie wir an den vielen jetzt erkannten Fällen weltweit sehen.

STANDARD: Woran liegt es, dass solche Varianten möglicherweise unerkannt bleiben?

Krammer: In vielen Ländern wird nur wenig sequenziert und es ist wenig Infrastruktur zum Testen vorhanden. Beim Sequenzieren trifft das auch auf einige wohlhabende Staaten zu. In Europa kommt momentan außerdem hinzu, dass es so viele Deltafälle gibt. Da sucht man die Nadel im Heuhaufen.

STANDARD: In Europa wird vielerorts stark PCR-getestet. Hieß es nicht, dass man Omikron einfach durch einen PCR-Test erkennen kann?

Krammer: Schon, aber es muss ein bestimmter PCR-Test sein, in dem unter anderem auch ein Abschnitt des Spike-Gens detektiert wird, das in diesem Virus fehlt – so wie es auch schon bei der Alphavariante der Fall war. Wenn dann eines der Signale im Test negativ ist und alle anderen Signale positiv, kann man davon ausgehen, dass man es mit Omikron zu tun hat. Das ist aber mit vielen kommerziellen Methoden zum Nukleinsäure-Nachweis nicht möglich.

STANDARD: Was würde es für den Verlauf der Pandemie bedeuten, wenn die Wirkung der Impfungen gegen Omikron stark verringert ist? Müssen Lockdowns verhängt werden, während wir auf angepasste Vakzine warten?

Krammer: Das hängt auch davon ab, wie weit sich Omikron ausbreiten kann, also ob es sich gegen Delta durchsetzt. Das ist nicht von vorn herein klar. In New York zum Beispiel hatten wir die Gammavariante, die Mu-Variante, die Iota-Variante, in Tirol gab es Beta und Alpha Plus – dann kam Delta und hat sie alle ausgelöscht. Die anderen Varianten sind einfach verschwunden, also verdrängt worden.

STANDARD: Weiß man, warum sich eine Variante ausbreitet und eine andere nicht?

Krammer: Das ist kompliziert. Wichtig ist die Reproduktionszahl, die besagt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Schnitt ansteckt, also wie infektiös die Variante ist. Und da gibt es viele Faktoren, die das beeinflussen können. Bei Delta sind wir hier ein wenig überrascht worden. Man kann sich zum Beispiel ansehen, wie gut das Virus an unsere Rezeptoren bindet. Wenn das Virus besser bindet, ist es wahrscheinlich infektiöser, würde man meinen. Aber Delta bindet nicht viel besser. Also warum ist das jetzt infektiöser? Das wissen wir noch immer nicht genau – aber wir haben viele Vermutungen.

STANDARD: Wir leben seit bald zwei Jahren in einer Pandemie. Haben Sie zu Beginn im Frühjahr 2020 damit gerechnet, dass das so lange dauern wird und dass es zu solchen Verheerungen – Millionen Tote, massive Kollateralschäden, wiederholte Einbrüche der Wirtschaft – kommt?

Krammer: Zum einen absolut Ja. Ich hatte immer Angst vor Sars-CoV-1, das Sars von 2003. Damals hatten wir weltweit etwa 8000 Fälle, etwa 800 Menschen sind daran gestorben und es wäre fast zu einer Pandemie gekommen, die man jedoch aufhalten konnte. Als ich am 31. Dezember 2019 von dem Ausbruch in China las, dachte ich: ’Das ist nicht so gut’, und als am 10. Jänner 2020 die Sequenz des neuen Virus heraus kam dachte ich mir: ’Na servas, das ist Sars’. Und das war es im Prinzip auch, die beiden Viren sind ziemlich nah verwandt.

STANDARD: Und zum anderen?

Krammer: Im heurigen Frühjahr war ich zuversichtlicher als jetzt. Ich dachte: ‚Jetzt ist es bald vorbei‘, erstens weil wir die Impfstoffe hatten und weil die Fallzahlen im Frühjahr grundsätzlich runtergingen. Aber dann ist Delta passiert und es hat sich herausgestellt, dass sich viele Leute nicht impfen lassen wollen. Das hat leider zu einer Entwicklung geführt, die wieder Lockdowns nötig macht, wie man jetzt vor allem in Europa sieht. Doch auch wenn es im Frühjahr 2021 gut aussah: die Omikron-Variante wäre wahrscheinlich trotzdem gekommen, denn anscheinend sind wir auf dieser Welt nicht fähig, Impfstoffe mit anderen Ländern zu teilen und so damit beizutragen, dass global geimpft wird. Die Impfraten etwa in Afrika sind ein Trauerspiel, die kriegen einfach keinen oder viel zu wenig Impfstoff.

STANDARD: In Österreich ist derzeit ein Gesetz für eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona in Vorbereitung. Kann das, auch angesichts der Unwägbarkeiten wegen Omikron, die Pandemie unter Kontrolle bringen?

Krammer: Ja – obwohl ich grundsätzlich nicht dafür bin, dass man Leute zu irgend etwas zwingt. Ich finde es traurig, dass man eine Impfpflicht einführen muss, aber es gibt anscheinend keine andere Lösung. Ich glaube schon, dass die Impfpflicht sehr dazu beitragen wird, die Situation zu beruhigen. Hätte man im Sommer, also vor der Herbstwelle, mehr Leute dazu motivieren können, sich impfen zu lassen, wäre das Problem mit Corona jetzt viel kleiner. Natürlich, wir konnten da noch keine Kinder impfen – jetzt kann man das und das ist gut, denn viele Kinder infizieren sich und geben die Infektionen weiter. Ich glaube, mit der verpflichtenden Impfung und einer höheren Durchimpfungsrate bei Kindern sind die Aussichten nicht allzu schlecht. Aber Omikron kann uns möglicherweise einen Strich durch die Rechnung machen. (Irene Brickner, 5.12.2021)