Der designierte Bundeskanzler Karl Nehammer ging in seiner Antrittspressekonferenz auch auf die Demos gegen die Corona-Maßnahmen ein und ließ Besorgnis über die Emotionalisierung, um nicht zu sagen Radikalisierung, erkennen.
Mit einer gewissen Berechtigung. Es ist inzwischen nicht ratsam, sich bei "Querdenker"-Demonstrationen als Journalist oder Journalistin erkennen zu geben, TV-Teams müssen Security dabei haben, die Online-Foren quellen über vor Beschimpfungen und Drohungen, direkte Drohmails mit vollem Namen sind keine Seltenheit, Politiker müssen wegen Morddrohungen für sich und ihre Familie Personenschutz einsetzen, und so weiter.
Das liegt auch, aber nicht nur daran, dass sich bei den Demonstrationen immer Rechtsextremisten herumtreiben, gerichtlich verurteilte, tätowierte Neonazis ebenso wie die Kaschmirpullover-Faschisten. Auch granderwassergestählte Esoteriker(innen) können ganz schön aggressiv werden, und kürzlich versuchte ein Trupp die Abendandacht im Stephansdom (wo geimpft wird) zu stürmen – mit der Begründung, man wolle für die fehlgeleiteten kirchlichen Impfer beten. Davor wurde versucht, in Krankenhäuser und Intensivstationen einzudringen. Furcht und Hass auf den Straßen Österreichs.
Die Konflikte würden durch Corona immer aggressiver, sie spalten Familie, Freunde oder Kollegen am Arbeitsplatz, konstatierte der Kärntner Psychotherapeut und Mediator Ulrich Hagg in einem Interview mit ORF.at.
Grenzüberschreitungen
Was tun? Auf der Beziehungsebene rät der Therapeut, das Thema Corona möglichst herauszuhalten. Die Sprache abzurüsten, keine wertenden Begriffe zu verwenden und "anzuerkennen, dass jeder Mensch aus einem eigenen Rechtsempfinden richtig handelt und richtig argumentiert". Aus der Mediation wüsste man, dass Wertekonflikte nicht gelöst, sondern nur "verhandelt, balanciert, ausgehalten werden können".
Im privaten Bereich wahrscheinlich eine gangbare Strategie, aber geht das auch auf gesellschaftlicher Ebene? Muss man die teilweise unerträglichen Grenzüberschreitungen von rechten Corona-Leugnern, die sich mit NS-Vokabular als die "neuen Opfer" gerieren, wirklich aushalten? In bestimmten Fällen, die eindeutig als Verhetzung zu charakterisieren sind, aber auch solchen, die mit der politischen Kultur einfach nicht zu vereinbaren sind, sind Sanktionen angebracht. Was zum Beispiel FPÖ-Chef Herbert Kickl von sich gibt, kann man nicht unwidersprochen lassen und ist auch zumindest in der Form zu sanktionieren, dass man diese Partei draußen lässt.
Aber wie sonst die Situation beruhigen? Wie vorbauen, dass sich nicht ein paar Durchgeknallte zu Gewaltaktionen hinreißen lassen? Die Nach-Kurz-Regierung scheint geneigter, Expertise von Wissenschaftern einzuholen und auch zu befolgen. Dazu gehören nicht nur Virologen, sondern auch Sozialpsychologen.
Vor allem aber dürfte ein Ansatz darin liegen, dass sich die Regierung und die nachgelagerten Institutionen erstmals seit langem bemühen, Kompetenz auszustrahlen und tatsächlich auch kompetent bei der Bekämpfung der Pandemie vorzugehen. Das Dilettieren der letzten Monate, das Gefühl, dass die Krise kein Ende hat und die Regierung kein Mittel weiß, löste auch bei Gutwilligen Angst aus. Und Angst erzeugt Aggressivität.
Mangelndes Vertrauen und Verunsicherung führen zu Panikreaktionen und zur Flucht in die Versprechungen von Scharlatanen und Hetzern. Bei aller Skepsis gegenüber Obrigkeitshörigkeit: Manchmal muss man erkennen können, dass die da oben wissen, was sie tun. (Hans Rauscher, 5.12.2021)