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Darum wird es Hamilton

Acht Punkte Rückstand sind in dieser engen Formel-1-Saison nichts. Entscheidender ist die Formkurve – und die spricht klar für Lewis Hamilton und dessen Auto. In den letzten beiden Rennen schwappte das Momentum auf die Seite des Briten. Vor allem der Grand Prix von Brasilien sollte bei Red Bull Racing vor dem Endspurt Angst und Schrecken verbreiten. Trotz des letzten Startplatzes im Sprint wegen eines irregulären Heckflügels und trotz der Startrückversetzung um fünf Plätze im Rennen wegen eines Motorwechsels flog Hamilton förmlich unaufhaltsam zum Sieg. In Katar folgte ein souveräner Erfolg.

Das Wort Momentum wird im Duden als "richtiger, geeigneter Augenblick, Zeitpunkt" definiert. Etwa um zwei Rennsiege in Folge einzufahren. Oder in São Paulo einen neuen Zaubermotor aus dem Hut zu ziehen. Oder wie in Doha das perfekte Set-up fürs Auto zu finden. Mercedes und Hamilton sind im richtigen Augenblick voll da.

Die Diskussion darüber, ob Valtteri Bottas oder Red-Bull-Pilot Sergio Perez der bessere Nummer-zwei-Fahrer ist, erwies sich als müßig. Zu überlegen sind die Ausnahmekönner Hamilton und Max Verstappen. Und fest steht: Der Champion hat den achten Titel in der eigenen Hand. Zwei Siege oder zweimal in höheren Punkterängen vor seinem Widersacher zu bleiben reichen dafür. Das restliche Rennprogramm begünstigt dieses Vorhaben. Der Stadtkurs in Saudi-Arabien gilt aufgrund seiner langen Vollgaspassagen eher als Mercedes-Terrain. Zudem setzen die Silberpfeile wieder auf den Motor, der Hamiltons Aufholjagd in Brasilien beflügelte. In Katar wollte und konnte man diesen schonen. Am Ergebnis änderte dies nichts. Mit umso mehr Vorfreude kündigte Teamchef Toto Wolff eine "richtige Granate" für die letzten beiden Rennwochenenden an.

Hamilton kennt zudem im Gegensatz zu seinem Konkurrenten das Gefühl, wenn sich eine WM erst im letzten Rennen entscheidet. Die Erfahrungen von 2007, 2008 und 2016 stählen ihn. Ach ja, und wer ist eigentlich mit fünf Triumphen Rekordsieger beim erhofften und mutmaßlichen Showdown in Abu Dhabi? Ein gewisser Lewis Hamilton.

Wolff sagte, die Widrigkeiten in Brasilien hätten den Löwen in seinem Schützling geweckt. Fahrer in Topform, Auto in Topform. Eine Kombination, die schwer zu bändigen sein wird.

Ein bisschen erinnert der WM-Endspurt an eine Sprintetappe der Tour de France. Ein Ausreißer biegt mit kleinem Vorsprung auf die Zielgeraden ein. Im Hintergrund sieht man das Peloton, die geballte Energie des Hauptfeldes oder Mercedes-Imperiums, heraneilen. Das TV-Publikum gönnt dem Mann, der der Formel-1-Eintönigkeit erstmals seit 2013 einen Ausreißer verpassen könnte, den Erfolg. Aber das Bauchgefühl sagt: Das geht sich knapp nicht aus. Verstappen wird noch abgefangen. (Andreas Gstaltmeyr, 4.12.2021)

Darum wird es Verstappen

Die Lehrjahre des Max Emilian Verstappen liegen schon länger zurück. Das Gesellenstück lieferte das größte Fahrertalent, das die Formel 1 nach Lewis Hamilton gesehen hat, schon 2019 mit Rang drei hinter dem damals noch fast unantastbaren Duo von Mercedes ab. Jetzt ist der Meisterbrief für den 24-jährigen Niederländer von Red Bull fällig.

Freilich sind die acht Punkte Vorsprung, die Verstappen vor den letzten beiden Rennen der Saison hat, die besten Argumente für das Ende von Hamiltons Siegeslauf unter dem Mercedes-Stern. Er, nicht der Titelverteidiger, kann theoretisch schon am Sonntag in Saudi-Arabien den Sack zumachen. Am ehesten mit dem zehnten Saisonsieg und dem Zusatzpunkt für die schnellste Runde. Hamilton müsste dann zumindest Fünfter werden, um nächsten Sonntag in Abu Dhabi das Blatt doch noch wenden zu können.

Eher ist aber von einer Vertagung auszugehen und also von der Gelegenheit für Verstappen, seinen größten Lernerfolg der vergangenen Jahre ausführlicher zu demonstrieren. Aus dem impulsiven, risikofreudigen, zu Disziplinlosigkeiten neigenden und also fehleranfälligen Jüngling ist in bisher 139 Großen Preisen ein zwar nicht kalter, aber genauer Rechner geworden, der seine Chancen abzuwägen und dann dank seiner überragenden Fähigkeiten zu nutzen weiß. Die deutlich erhöhte Frustrationstoleranz bewahrt ihn vor schweren Schnitzern in Drucksituationen. Das Fahren auf ein Ergebnis abseits des Sieges geht dem Sohn des ehemaligen Formel-1-Piloten Jos Verstappen leichter vom Volant.

Neben der eigenen Brillanz spricht für Verstappen auch ein Rennstall, der den ganz großen Erfolg lange genug entbehren musste. Teamchef Christian Horner ist nicht nur augenscheinlich näher dran an seinen Piloten als der Kollege Toto Wolff, dem die Konkurrenzsituation offenbar mehr zusetzt, als ihm lieb ist. Der Brite liebt es geradezu, den Österreicher aufzuziehen, Wolff reagiert wie gewünscht dünnhäutig. In puncto Boxenstrategie ist Red Bull zumindest auf Augenhöhe mit Mercedes. Zudem hat Verstappen im Mexikaner Sergio Perez ein verlässlicheres Back-up als Hamilton in Valtteri Bottas. Der Finne blieb in dieser Saison deutlich öfter unter den Möglichkeiten, die ihm das Auto bot. Der nahende Wechsel aufs Altenteil namens Alfa Romeo, der Abschied von jeglicher Titelchance ist eher kein Ansporn für den zweimaligen Vizeweltmeister.

Wohl prahlt das Weltmeisterteam mit der Stärke des Antriebs, der Hamiltons Boliden mit der Nummer 44 vor allem auf dem neuen Jeddah Corniche Circuit deutliche Vorteile verschaffen soll. Die Unwägbarkeiten, die einem Premierenrennen innewohnen, zumal jenem in Saudi-Arabien, sprechen aber für den offensichtlich gelasseneren Mann. Und der sitzt im Wagen mit der Nummer 33. (Sigi Lützow, 4.12.2021)