Kurz vor 10.000 Getreuen im Wahlkampf 2017: War die Popularität der einzige Maßstab seines Handelns?

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Es ist eine Zuschreibung, die sich in vielen Porträts findet: Sebastian Kurz, heißt es, sei der Prototyp des Politikers, dem es hauptsächlich um die Macht an sich gehe statt um den Inhalt. Auch wenn der gestrauchelte Star Politik gerne als Wettbewerb der Ideen definiert habe, urteilte der Politologe Peter Filzmaier in der ZiB 2, sei Kurz der Meister im Wettbewerb der Kommunikation und des Marketings gewesen.

Wird das dem 35-jährigen Ex-Regierungschef gerecht? Abgesehen von der Aufarbeitung der fragwürdigen Methoden seines Aufstiegs: Was bleibt von Kanzler Kurz?

Er selbst würde womöglich als Erstes antworten: mehr Geld für arbeitende Menschen. Falsch ist das nicht, denn tatsächlich fallen in seine Zeit massive Steuerentlastungen. Allerdings haben die meisten Regierungen irgendwann die Lohn- und Einkommenssteuer gesenkt. Ebenso regelmäßig fraß die kalte Progression, die trotz gegenteiliger Versprechen auch unter Kurz nicht abgeschafft wurde, die Effekte wieder auf.

Ein Novum sticht aber doch hervor. Markanteste türkise Idee ist der Familienbonus, der Eltern pro Kind um bis zu 1500 Euro, ab Mitte 2022 sogar um bis zu 2000 Euro im Jahr entlastet – ein halbwegs gutes Einkommen vorausgesetzt. Denn als Steuerfreibetrag greift der Bonus im Endausbau bei einem Kind erst ab 2000 Euro brutto im Monat voll.

Populäres Herzstück

Ob das Konstrukt gerecht ist, hängt von der Perspektive ab. Wer der Meinung ist, dass "Leistungsträger" per se zu viel Geld an den Staat abliefern, wird zustimmen – wer reichlich Lohnsteuer zahle, solle auch entsprechend entlastet werden. Entgegnen lässt sich, dass dem Staat damit nicht jedes Kind gleich viel wert ist. Doch bei aller Kritik: Der Bonus ist in der Mittelschicht wohl so populär, dass sich auch eine SPÖ-geführte Regierung mit der Abschaffung schwertäte.

Überhaupt war Kurz für die Sozialdemokraten kein dankbarer Gegner. Als Wolfgang-Schüssel-Klon, der eine beinharte neoliberale Agenda durchboxt, hat er sich nicht entpuppt. Zwar boten Steuerzuckerln für Unternehmer Angriffspunkte, doch Entlastung gab es auch für kleine Einkommen.

Privatisierungen von Staatsbetrieben blieben ebenso tabu wie eine gröbere Pensionsreform. Rief die ÖVP früher auf Druck des Wirtschaftsflügels nach Einschnitten, war sie nun bei jeder Extraerhöhung dabei – ein Vermächtnis, das die Post-Kurz-Partei mit Bedacht auf die Glaubwürdigkeit nicht einfach entsorgen wird können.

Angst vor einem Umfragetief

Ein Beleg dafür, dass Kurz Politik allein am Maßstab der Popularität ausrichtete? So sehen das jene, die ihn für einen von Angst vor einem Umfragetief getriebenen Machtopportunisten halten. Seine Verteidiger preisen das Springen über ideologische Grenzen hingegen als Stärke, um Pattstellungen zu überwinden.

Kehrseite des Slogans von der Leistung, die sich lohnen müsse: Für jene, die im Verdacht der Arbeitsscheu standen, wurde es unter Kurz’ erster Regierung, jener mit der FPÖ, ungemütlicher.

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Als Türkis-Blau zu strahlen versuchte: Für jene, die im Verdacht der Arbeitsscheu standen, wurde es in Kurz' erster Regierung ungemütlicher.
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Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat zwar zentrale Härten der Mindestsicherungsreform gekippt, doch auch danach blieben – je nach Ausgestaltung der Länder – Verschlechterungen übrig. Statt Mindeststandards gelten nun Höchstgrenzen.

Kein langes Leben dürfte einer anderen Verschärfung beschieden sein. Die Kürzung der Familienbeihilfe für in Österreich arbeitende Ausländer auf das Niveau des Wohnorts ihrer Kinder hat gute Chancen, vom Europäischen Gerichtshof aufgehoben zu werden.

Handfeste Machtverschiebung

Über einen weiteren Aufreger aus türkis-blauen Zeiten lässt sich noch kein finales Urteil sprechen. Welche Einsparungen und anderen Effekte die Fusion der Krankenkassen am Ende bringt, wird sich erst herauskristallisieren; Rudolf Anschober, Sozialminister in Kurz’ zweiter Regierung, qualifizierte die versprochene Patientenmilliarde als Utopie. Handfest ist hingegen: Die Reform verschob die Macht in den Sozialversicherungen zu den ÖVP-lastigen Arbeitnehmervertretern.

Aus dieser Zeit geblieben ist die Möglichkeit für Unternehmen, der Belegschaft ohne Mitsprache des Betriebsrates Zwölfstundentage und 60-Stunden-Wochen aufzuerlegen. Doch in der Praxis wurde daraus offenbar kein Massenprogramm, und die unter Türkis-Blau praktizierte Ignoranz der Arbeitnehmervertreter war nicht von Dauer. Seit dem Koalitionswechsel zu den Grünen sitzen die roten Sozialpartner wieder mit am Tisch.

In der neuen Konstellation blieb wenig Zeit für Dauerhaftes. Die Corona-Pandemie verlangte kurzfristiges Management. Dabei vollzog die ÖVP aber einen markanten Kurswechsel. Galten bisher Schuldenbremse und Budgetdisziplin als Maxime, regierte nun das Motto "Koste es, was es wolle". Ob der entspannte Zugang zu Budgetdefiziten über die Krise hinausreicht? Die Sparmeisterattitüde von Finanzminister Gernot Blümel auf EU-Ebene ließ das Gegenteil vermuten.

Pflöcke in der EU eingeschlagen

Ähnlich stilisierte sich Kurz, als die EU im Vorjahr beriet, wie man den pandemiegebeutelten Volkswirtschaften im Süden auf die Beine helfen könnte. Mit Dänemark, Schweden und den Niederlanden bot Österreich im informellen Bündnis der sogenannten Frugalen Vier den spendableren Großmächten Deutschland und Frankreich die Stirn – mit Erfolg.

Die Kriterien der Kreditvergabe wurden verschärft, die beiden Hauptnutznießer Italien und Spanien müssen genaue Rechenschaft ablegen. Auch Österreich selbst hat von Kurz’ Vorpreschen profitiert: Viel mehr Hilfsgelder als erwartet flossen nach Wien.

Bei seinem Leibthema schlug Kurz als Kanzler ebenso Pflöcke in Brüssel ein. Sein scharfer Kurs in Migrationsfragen gilt heute auch in der EU-Kommission als salonfähig.

Kurz mit seinem politischen Freund Netanjahu: Gemeinsam mit Ungarn verhinderte Österreich einen EU-Aufruf gegen die israelischen Annexionspläne im Westjordanland.
Foto: APA / Robert Jäger

Zelebriert hat Kurz die Partnerschaft mit dem mittlerweile ebenfalls abgetretenen israelischen Premier Benjamin Netanjahu. Zur Eröffnung der umstrittenen US-Botschaft in Jerusalem schickte das damals türkis-blaue Österreich als einziges westeuropäisches EU-Land seinen Botschafter.

Zu Beginn der Pandemie berief sich Kurz direkt auf Netanjahus Regierung als Vorbild in der Bekämpfung des Virus. Als Israel im Frühjahr Krieg gegen die radikalislamische Hamas-Miliz führte, bezog Kurz anders als die meisten EU-Regierungschefs klar Position: Tagelang wehte die israelische Fahne auf dem Kanzleramt.

Kurz hat das Abstimmungsverhalten Österreichs in multinationalen Gremien deutlich verändert – und das vermutlich nachhaltig. Am deutlichsten wohl im Mai 2020, als Österreich mit Ungarn einen gemeinsamen EU-Aufruf gegen die israelischen Annexionsplänen im Westjordanland verhinderte.

Weichenstellungen wider Willen

Bleiben noch jene Marksteine, die Kurz eher zwangsläufig mitgesetzt hat. So sehr Experten auch den zu niedrigen Preis und andere Lücken im Konzept beklagen: Dass die beschlossene CO2-Besteuerung ein irreversibler Einstieg ist, lässt sich schwer von der Hand weisen. Künftige Regierungen werden dieses Rad kaum zurückdrehen können.

Durchgesetzt haben das natürlich die Grünen gegen viel Widerstand aus der ÖVP. Immerhin aber hat Kurz die Koalition im Wissen um diese Bedingung geschlossen. In Hintergrundgesprächen ließ er durchklingen, dass ihn der Pakt mit den Grünen auch deshalb reize, weil die ÖVP ein ökologisches Gewissen brauche. Wie viel davon bloß Imagepflege war, lässt sich allerdings kaum abschätzen.

Apropos widerwillig: Eine große Weichenstellung ist die vom VfGH erzwungene Legalisierung des assistierten Suizids. Wieder gibt es in der katholisch tradierten ÖVP Widerstand – doch auch hier trägt die türkise Regierungshälfte bis dato eine herzeigbare Regelung mit.

Für den Namensmauer der Shoah Opfer stellte die Regierung Kurz I fünf Millionen Euro bereit. Bei der Eröffnung Anfang November hieß der Kanzler bereits Alexander Schallenberg.
Foto: APA / Herbert Neubauer

Eine andere Errungenschaft hat direkt mit Kurz’ Einsatz zu tun. Ob es nun auch um die Reinwaschung des rechten Koalitionspartners ging oder nicht: Es war die Regierung Kurz I, die über fünf Millionen Euro für die Errichtung der Anfang November in Wien eröffneten Namensmauer für die Shoa-Opfer freigab.

Schwerer fassbar ist das Erbe, das der türkise Stil hinterließ: die Brandmarkung der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft als politisch motivierte Jagdgesellschaft durch Kurz und seine Getreuen etwa. Ob dieses Verhalten das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz nachhaltig beschädigt hat, ist nicht absehbar. (Gerald John, Florian Niederndorfer, 4.12.2021)