Nicht nur der Wahlsieg an sich zähle, sagt Reinhold Mitterlehner, sondern auch die Frage des Wie.

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Die politische Geschichte des Sebastian Kurz kann nicht ohne Reinhold Mitterlehner erzählt werden. Im Sommer 2017 kam es zum Showdown an der ÖVP-Spitze. Mitterlehner trat zurück, Kurz übernahm die Volkspartei, färbte sie türkis und war im Dezember mit 31 Jahren Kanzler. Zwei Jahre später warf ihm sein Vorgänger in seinem mit Haltung betitelten Buch falsches Spiel und Intrigen auf dem Weg ins Kanzleramt vor. Ende 2021 ist Kurz als Kanzler und ÖVP-Chef Geschichte. Und jetzt?

STANDARD: Wie blicken Sie auf den Rücktritt von Sebastian Kurz? Ist da auch Genugtuung?

Mitterlehner: Es sind gemischte Gefühle. Im Wesentlichen ist es für mich eine Bestätigung, dass sich mittelfristig ein Weg, bei dem Anspruch und Wirklichkeit nicht zusammenpassen und der hauptsächlich auf große Ansagen ausgerichtet war, von denen außer Inszenierung wenig übrig geblieben ist, nicht ausgeht – und dass man bestimmte demokratische, auch medienpolitische, Regeln einhalten muss.

STANDARD: Was wird von Kurz, dem ÖVP-Chef und Bundeskanzler, bleiben – politisch, aber auch was die politische Kultur angeht?

Mitterlehner: Bleiben wird die Erinnerung – und das ist wahrscheinlich das, was er anstrebt –, dass Kurz die ÖVP in lichte Höhen geführt und zwei fulminante Wahlsiege eingefahren hat, die ihm den Kanzler einbrachten. Aber was wurde damit erreicht? Im Endeffekt ist nicht einmal eine Regierungsperiode zustande gekommen, weil in vier Jahren zwei Rücktritte und eine Abwahl stattgefunden haben. Der Erfolg war also nicht nachhaltig. Daneben ist auch die Frage des Wie relevant: Die Wahlerfolge waren insbesondere eine großartige Marketing- und Kommunikationsleistung, jedoch unter Einsatz von manipulativen Instrumenten wie geschönten oder zurechtgestutzten Meinungsumfragen. Damit manipuliert man auch die Bevölkerung, und das ist aus meiner Sicht im Sinne einer politischen Verantwortung schwer problematisch. Die weitere Frage stellt sich aber auch auf der Metaebene, ob es nicht notwendig ist, faktenorientiert und wissenschaftsbasiert die richtige Politik zu machen, siehe auch beim Thema Pandemie, und die dann populär zu machen, anstatt etwas Populäres anzukündigen, aber dann, wenn es schwierig wird, nichts oder nur wenig umzusetzen. Etwa durch tatenloses Abwarten bei genau diesem Thema, bis wir wieder im Lockdown waren.

STANDARD: Was bleibt sachpolitisch von Kurz?

Mitterlehner: Ganz sicher hat er in der Migrationspolitik die Weichenstellung wesentlich so beeinflusst, dass Österreich einen restriktiven Flüchtlingskurs im Land, aber auch in Europa propagiert und teilweise durchgesetzt hat. Er hat das Pendel allerdings zu weit nach rechts schwingen lassen und einen Rechtsruck in der Bevölkerung, etwa im Umgang mit den Kindern von Moria, zustande gebracht.

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Am 26. Jänner 2017 wurden der damalige ÖVP-Chef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (red.) und der damalige Außenminister Sebastian Kurz bei der Angelobung des neuen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen im Historischen Sitzungssaal des Parlaments nebeneinander platziert. Die Freude darüber war, so scheint's, enden wollend. Am 10. Mai des Jahres kündigte Mitterlehner seinen Rücktritt an.
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STANDARD: Apropos Rechtsruck, der ja auch viele Stimmen gebracht hat: Wie hat Kurz als ÖVP-Chef die Matrix der Partei inhaltlich verschoben? Braucht es eine Neupositionierung?

Mitterlehner: Seine Aktivitäten sind nicht nur auf die Flüchtlingspolitik einzugrenzen. Was den Wirtschaftsstandort betrifft, ich spreche von der Flexibilisierung der Arbeitszeit, aber auch Themen wie der Steuerentlastung, hat er im Großen und Ganzen schon einen richtigen Weg aufgezeigt, auch wenn der auf halber Strecke hängengeblieben ist. Bei der Steuerreform ist im klimapolitischen Bereich zu wenig passiert, und auf der anderen Seite wird die kalte Progression nicht einmal ansatzweise abgegolten. In der Migrationspolitik wird unter Nehammer wohl keine Aufweichung erfolgen. Ich glaube sogar, dass das von der Bevölkerung im Wesentlichen mitgetragen wird, denn im Endeffekt gab es in ganz Europa einen Rechtsruck. Worum es für die ÖVP gehen wird, ist die soziale Frage: Bin ich hauptsächlich für die Eliten und die Wirtschaft zuständig oder auch für diejenigen, die jetzt durch Inflation und Pandemie geschädigt werden? Die Regierung sollte sich auch der Pensionsthematik stellen. Wahrscheinlich am dringendsten ist die Reform des Gesundheitssystems, auch was die Pflege und Entlohnung in diesem Bereich betrifft.

STANDARD: Ist Karl Nehammer, der ÖVP-Chef und Kanzler wird, jetzt die richtige Person?

Mitterlehner: Nehammer passt auf das Profil, das gesucht wurde: Wer ist in der Partei gut verankert, wer hat Regierungserfahrung und ist am wenigsten durch die Vorgeschichte belastet? Viel interessanter ist die Frage, wie sich die Partei ausrichten wird. Sie steht vor dem Problem, dass man die Vollmachten, die man Kurz gegeben hat, jetzt de facto wieder zurücknimmt und so wieder die alte Problematik, die ich schon erlebt habe, entsteht: nämlich dass die Länder die Bundespartei quasi wie ihre Repräsentanz in Wien verstehen, was die Handlungsfähigkeit erneut einengt.

STANDARD:Kurz ist weg, und die alte ÖVP samt mächtigen Ländern und Bünden ist wieder zurück?

Mitterlehner: In dem Augenblick, in dem auf Bundesebene alles implodiert, ist die faktische Handlungsfähigkeit nur durch die Länder da. Daher sind Vollmachten, die auf dem Papier bestehen, jetzt eigentlich wertlos. Man hatte eine Hybridparteiorganisation: In Wien hat eine kleine Gruppe alles dominiert, inhaltlich, kommunikativ, und die Länder und Bünde haben die Funktionäre gestellt und mit ihren Beiträgen die Bundespartei auch mitfinanziert. Nur mit der Problematik, dass das ganze Vehikel in dem Moment, in dem ein Teil nicht mehr funktioniert, insgesamt gefährdet ist.

STANDARD: Nach Kurz fielen noch am selben Tag dominogleich auch Kanzler Alexander Schallenberg und Finanzminister Gernot Blümel. Notwendiger Reinigungsprozess für einen Neustart?

Mitterlehner: Wenn die ÖVP in Zukunft reüssieren will, dann muss man sich den Realitäten stellen, und es muss eine bestimmte Ehrlichkeit eintreten, die damit beginnt, dass man alle, die jetzt mit Verfahren belastet sind, aus dem System entfernt. Wenn man einen Neuanfang will, wird man im Endeffekt alle aus dem Planungsteam des Systems Kurz, das "Team Ballhausplatz", nicht mehr in der Politik beschäftigen können.

STANDARD: Die Opposition fordert Neuwahlen. Sind die ÖVP-Umbauten ein Grund dafür?

Mitterlehner: Früher oder später wird sich die Frage stellen, ob die Regierung noch handlungsfähig ist. Themen wie die von Ministerin Gewessler angezogene Problematik des Lobautunnels zeigen, ob man noch in der Lage ist, Probleme gemeinsam auszudiskutieren und dann auch zu vertreten. Mir haben da jetzt zum Beispiel bei der Präsentation besprochene Alternativansätze gefehlt. Das wird man auch bei anderen Themen sehen. ÖVP und Grüne werden sich bemühen, denn niemand von den beiden kann Interesse daran haben, dass die Koalition jetzt gesprengt wird, aber natürlich sind die Handicaps und das gegenseitige Misstrauen nicht weniger geworden.

STANDARD: Kurz sprach bei seinem Abschied auch vom "Gefühl, gejagt zu werden". Die Kurz-Anhängerschaft nennt meist die WKStA, dann gleich "die Medien" und natürlich die Opposition.

Mitterlehner: Von dem halte ich sehr wenig, weil die Medien und auch die WKStA im Wesentlichen nichts anderes machen als ihre Arbeit. In Wirklichkeit traut sich im ÖVP-Bereich niemand einzugestehen, dass an der jetzigen Situation alle Beteiligten ihren eigenen Anteil haben. Um den zu erkennen, brauche ich gar keine Staatsanwaltschaft, das kann ich anhand der Chats beurteilen, dass demokratische Spielregeln nicht eingehalten wurden: bei den Postenbesetzungen, beim Schreddern und Verweigern von Unterlagen für den U-Ausschuss, beim Torpedieren eigener Regierungsvorhaben im Familienbereich. Es gibt in ganz Europa keinen anderen Kanzler, der zumindest akzeptiert hat, dass mit geschönten Meinungsumfragen politisch agiert und damit auch manipuliert wird. Schon aus diesem Grund ist Sebastian Kurz über sich selbst gestolpert.

Reinhold Mitterlehner bei der Präsentation seines Buchs "Haltung – Flagge zeigen in Leben und Politik" am 17. April 2019.
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STANDARD: Gab es eigentlich nach seiner Machtübernahme zwischen Ihnen und Sebastian Kurz noch ein persönliches, privates Gespräch, oder gibt es da ohnehin nichts mehr zu sagen?

Mitterlehner: Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ich mein Buch Haltung veröffentlicht habe, haben wir einige Male miteinander gesprochen. Ab dem Zeitpunkt gab es keinen Kontakt mehr, was ich durchaus verstehe. Man kann klare Verhältnisse auch im Negativen haben. (Lisa Nimmervoll, 4.12.2021)

Update: Das ursprünglich an zwei Stellen verwendete Wort "getürkt" wurde in Absprache mit dem Interviewten nachträglich ausgetauscht, weil es von einigen Leserinnen und Lesern als negativ konnotiert gelesen wurde, was natürlich niemandes Absicht war.