Natürlich stehen Neuwahlen im Raum. Die SPÖ hat sie bereits gefordert. Ein Teil der SPÖ jedenfalls, diesem voran der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil. Aber es wird sie wohl kaum geben. Dafür fehlt im Parlament die Mehrheit. Weder ÖVP noch Grüne haben in der derzeitigen Situation Interesse an Wahlen. Die Gründe liegen klar auf der Hand:

Die ÖVP muss sich erst stabilisieren. Das wird Zeit brauchen. Der neue Bundeskanzler und sein zum Teil neues Regierungsteam müssen Fuß fassen und an dem arbeiten, was in der Politik die härteste und wichtigste Währung ist: Vertrauen. Von diesem ist enorm viel verlorengegangen. Die Enttäuschung, die viele Anhänger von Sebastian Kurz empfinden, muss einmal aufgearbeitet werden.

Der Abgang von Sebastian Kurz ist für die ÖVP eine große Herausforderung: Gerade die inhaltslose Inszenierung hat viele geblendet, die man auf Dauer wieder verlieren könnte.
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Schreckensszenario

In den Umfragen sieht man es ganz deutlich: Die Kanzlerpartei lag im September noch bei 35 Prozent, jetzt sind es nur noch 26 Prozent. Das ist in etwa gleichauf oder auch hinter der SPÖ, in manchen Umfragen sogar hinter der FPÖ. Die ÖVP wird sich also hüten, in Neuwahlen zu gehen, da kann sie nur verlieren. Und fliegt im – für sie – schlimmsten Fall sogar aus der Regierung.

Die Grünen können derzeit auch kein Interesse an Neuwahlen haben, aus ähnlichen Gründen. Sie liegen zwar in den Umfragen recht gut, müssen aber ebenfalls dem Risiko ins Auge blicken, in einer neuen Regierungskonstellation dort nicht mehr vertreten zu sein – und damit gar nichts mehr umsetzen zu können.

Schwierige Mehrheiten

Derzeit läuft es ja ganz gut aus grüner Sicht. Das Nein zum Lobautunnel war ein mutiger Schritt und auch ein deutliches Zeichen an die Wählerschaft: Die Grünen sind doch in der Lage, ihre Interessen wahrzunehmen. Das war nicht immer so klar. Ein neuer Minister einer anderen Partei könnte auch diese Entscheidung ganz rasch wieder zurücknehmen. Freilich gäbe es die Verlockung, dass erstmals seit langer Zeit – zumindest laut Umfragen – die Variante Rot-Grün-Pink möglich wäre. Das ist angesichts der turbulenten Zeiten aber eine äußerst unsichere Bank.

Profiteure einer Neuwahl wären einerseits die SPÖ, die derzeit besser liegt, als sich das ihre Protagonisten selbst vorzustellen wagten, in erster Linie aber die FPÖ und auch die Liste MFG. Ein Wahltermin in der Pandemiebekämpfung samt Impfpflicht würde es der FPÖ und der MFG allzu leicht machen, ihre Anhängerschaft zu mobilisieren.

Karl Nehammer wird also alles darauf setzen, Stabilität zu vermitteln und Zeit zur Regeneration seiner Partei zu gewinnen. Der ganz große Höhenflug, der Anschluss an die Popularität von Sebastian Kurz zu seiner besten Zeit wird Nehammer aber verwehrt bleiben. Weil er Nehammer und nicht Kurz ist.

Unkonventioneller Auftritt

Kurz konnte seine Anhänger mit der Verheißung des Neuen locken. Er predigte die Botschaft, alles anders und vor allem besser zu machen: die alten, verkrusteten Strukturen aufzubrechen, in der eigenen Partei und der übrigen Politik, dazu zählte auch die große Koalition, die sich überholt hatte. Damit konnte er eine neue Wählerschaft ansprechen: Das Engagement wirkte echt. Auch wenn Kurz keine Erfahrung außerhalb des Parteiapparats vorzuweisen hatte, konnte er den Habitus des Neuen, des Unkonventionellen glaubwürdig vermitteln.

Das kann Nehammer nicht. Er ist klassisch ein Vertreter der alten Schule. Er ist Parteisoldat. Hörig und abhängig. Da ist nichts neu dran. Diesen Typus Politiker kennt man allzu gut, insbesondere auch aus den Reihen der Volkspartei.

Wenigstens die mächtigen und auch die weniger mächtigen Landesfürsten in der ÖVP können sich entspannt zurücklehnen. Sie wissen, was sie mit Nehammer haben und bekommen: einen verlässlichen Diener seiner Partei, der sich brav abstimmen und niemanden vor den Kopf stoßen wird. Kurz war ein aufregendes, ungewisses Experiment. Nehammer ist die schwarze Musterware von der Stange.

Bei den Wählern kann das gut ankommen. Die eigene Klientel wird erleichtert sein, wenn man wieder in ruhigere Gewässer findet. Da darf es auch einmal langweilig sein. Die Frage ist, ob es Nehammer gelingt, jenes Potenzial an Wählern außerhalb der üblichen Kreise der ÖVP anzusprechen, das Kurz mobilisieren konnte. Eher nein.

Schmerzhafte Linie

Kurz konnte drei Dinge besonders gut: das Neue darstellen (ohne es einzulösen), eine harte, manchmal schmerzhafte Linie in Asyl- und Migrationsfragen verfolgen sowie Stimmungslagen in der Bevölkerung gut erkennen und darauf eingehen. Tatsächlich hat Kurz seine Kommunikation und viele Inhalte nach Umfragen ausgerichtet. Und er konnte sich gut und nachvollziehbar verständlich machen.

Die harte Linie in Asyl- und Migrationsfragen wird Nehammer weiterverfolgen. Dass er wenig Schmerzen kennt, hat er bewiesen, als er Kinder in der Nacht von einem Überfallkommando der Polizei abholen ließ, um sie abzuschieben. Dennoch traut man Nehammer in Menschenrechtsfragen mehr Skrupel zu als Kurz, der keinerlei Bedenken hatte, hässliche Bilder zu erzeugen, wenn eine Mehrheit gut damit leben konnte.

Gnadenlose Ausrichtung

Die Ausrichtung nach Umfragen wird Nehammer wohl beibehalten, vielleicht nicht mit der gleichen Gnadenlosigkeit wie Kurz. Außerdem fehlt ihm die strategische Gewieftheit, die Kurz aus seinem sehr professionellen Beraterteam schöpfen konnte. Das politische Marketing hat Nehammer in St. Pölten gelernt, dort bedient man sich gerne etwas gröberer Werkzeuge.

Was Nehammer jedenfalls kann, vielleicht etwas anders nuanciert als Kurz, ist, sich verständlich zu machen. Nehammer kommuniziert klar und einfach, er überfordert sein Gegenüber nicht mit brillanter Rhetorik. Indem er die Lautstärke auch tatsächlich höher dreht, manchmal bis zum Rande des Schreiens, wirkt er glaubhaft. Nehammer hat Kommunikation gelernt, aber nicht so gut, dass es aufgesetzt wirkt. Die Holprigkeit, die sich in seine Sprachbilder einschleicht, lässt ihn halbwegs authentisch dastehen.

Das Dichtmachen nach rechts wird für Nehammer eine schwierige Aufgabe: Wie weit verschiebt er die Grenze in das Lager der FPÖ hinein? Mit der konsequenten Linie in der Migrationsfrage buhlt Nehammer offensiv um das rechte Lager, weiß aber auch die Mitte und Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.

Seine klare Abgrenzung zum Rechtsextremismus, die er immer wieder deutlich gemacht hat, bedeutet auch, einen Teil dieses freiheitlichen Lagers nicht ansprechen zu können. Die klare Positionierung in der Frage der Pandemie, die Nehammer in seiner Rede am Freitagvormittag bekräftigt hat, schließt viele Wähler aus, die sich tendenziell eher am rechten Rand aufhalten, wenn auch nicht ausschließlich.

Zurück zur alten Größe

Das politische Gleichgewicht könnte also wieder etwas mehr in die Mitte rücken, als das zuletzt der Fall war – und die ÖVP auf jene Größe zurückstutzen, die sie vor Kurz gehabt hatte, also etwas kompakter.

Die deutliche Abgrenzung zu den Impfverweigerern wird zu einer anhaltenden Polarisierung führen. In der Bekämpfung der Pandemie klar Flagge zu zeigen wird dem Rest des Landes, und das ist das weitaus größere Lager, aber guttun: Dieser Konsens, der ÖVP, SPÖ, Grüne und Neos verbindet, könnte dazu beitragen, Druck aus dem innenpolitischen Kelomat abzulassen.

Nehammer gilt zwar als Hardliner, und im Umgang mit Gegnern und Kritikern geht er manchmal recht niederösterreichisch grob um, im Grunde ist er aber einer, der verbinden will und zumindest zuhören kann. Das sagen ihm auch Politiker anderer Parteien nach – und das wär schon einmal ein guter Ansatz, die Betriebstemperatur der Innenpolitik wieder etwas runterzukühlen. (Michael Völker, 3.12.2021)