Magnus Carlsen ging geradezu chirurgisch vor.

Foto: APA/AP/Jebreili

Jan Nepomnjaschtschi hat nicht viel Zeit, die Niederlage zu verdauen. Am Samstag geht es weiter.

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Dubai – 136 Züge. Einer für jedes Jahr, seit sich Wilhelm Steinitz 1886 zum ersten Weltmeister der Schachgeschichte kürte – und dann noch einer: für die Zukunft des klassischen Schachs. In unglaublichen 136 Zügen ringt Magnus Carlsen seinen Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi in Partie sechs dieser WM nieder. Als Nepo schließlich die Hand zum Zeichen der Aufgabe über das Brett reicht, ist es in Dubai bereits nach Mitternacht, also Samstag. Begonnen hat die Partie am Freitagnachmittag, um 16:30 Ortszeit. Fast acht Stunden hat diese Schlacht gedauert.

Verschmähtes Gambit

Dabei sieht es lange Zeit nicht unbedingt so aus, als ob sich der Verlauf der Partie von den fünf zuvor gespielten Remisen entscheidend abheben würde. Carlsen überrascht seinen Gegner früh mit einer selten gesehenen Nebenvariante der Katalanischen Partie, indem der Norweger mit Weiß im neunten Zug einen Bauern für flüssige Entwicklung opfert. Nepomnjaschtschi verschmäht das Gambit, spielt stattdessen ein paar logische Entwicklungszüge – und plötzlich ist es der Weltmeister, der länger nachdenken muss, weil er augenscheinlich Schwierigkeiten hat, sich im Detail an seine Vorbereitung für diese Zugfolge zu erinnern.

Carlsen versucht in der Folge vor allem, das Spiel nicht zu schnell verflachen zu lassen. Die Figurenkoordination des Champions lässt allerdings zu wünschen übrig, und so ist es bald Nepomnjaschtschi, der mit den schwarzen Steinen daran denken kann, nach mehr als bloßem Ausgleich zu streben. Spätestens mit 17...gxf6 gibt der Russe zu erkennen, dass er heute an einem Spiel auf Gewinn interessiert ist: Trotz der Schwächung seiner Bauernstruktur am Königsflügel belässt Nepo mit diesem Zug (statt 17...Dxf6) nämlich die Damen auf dem Brett, was ein rasches Austrocknen der Partie vermeidet.

Materielle Asymmetrie

Als Nepo seinem Gegner im 25. Zug auch noch die Möglichkeit einräumt, die weiße Dame gegen beide schwarzen Türme zu tauschen, erhält die sechste Partie das Gepräge, das sie für viele weitere Stunden am Leben erhalten und zu einem der größten Kämpfe der WM-Historie anschwellen lassen wird. Noch befindet sich die Stellung allerdings im dynamischen Gleichgewicht: Die zentralisierte schwarze Dame und der Raumvorteil des Nachziehenden am Damenflügel wiegen die nominelle Überlegenheit der zwei weißen Türme auf. Zugleich ist für beide Spieler der Einsatz aber mit einem Mal deutlich gestiegen. Durch die materielle Asymmetrie wird die Sache komplexer, unmerkliche Fehler können sich nun leichter einschleichen.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 6.
Österreichischer Schachbund

Und sie kommen, auf beiden Seiten. Mit 33. Td1? lässt zunächst Carlsen, der sich bereits in horrender Zeitnot befindet, die überraschende Möglichkeit aus, mit 33. Tcc2!! den eigenen Damenflügel zu opfern und dafür mit Springer und beiden Türmen zum Angriff auf den schwarzen König zu blasen. Nepomnjaschtschi revanchiert sich wenig später mit dem unverständlichen Patzer 36...Dd5?, der eine für Schwarz klar bessere Stellung (nach 36...Lxb4 mit Mehrbauer) in eine Zitterpartie verwandelt, in der nur noch der Weiße auf Gewinn spielen kann.

Vorteil Carlsen

Nach geschaffter erster Zeitkontrolle nach Zug 40 – beide Spieler haben eine Stunde frische Bedenkzeit auf ihren Uhren addiert bekommen – ist es Zeit für eine Zwischenbilanz: Objektiv ist Nepomnjaschtschi mit seinem lästigen Freibauern auf a3 nahe am Ausgleich, praktisch gestaltet sich die Sache für den Schwarzspieler ziemlich unangenehm. Seine Bauernruine am Königsflügel ist ein permanentes Angriffsziel für die weißen Figuren. Verliert er den starken a-Freibauern – und es ist nicht klar, ob er ihn dauerhaft halten kann – dann könnte der strukturelle Nachteil ausreichen, um das Endspiel für ihn unhaltbar zu gestalten.

Gerade als es so aussieht, als ob der Herausforderer die optimale Defensivaufstellung gefunden hätte, begeht er den vorentscheidenden Fehler der Partie. Anstatt mit 52...Kg7 einfach abzuwarten, führt Nepo fast ohne nachzudenken und mit lockerem Gestus den Zug 52...De4? aus. Carlsen kontert mit 53. Txa3 – und jetzt wird seinem Gegner bewusst, was er angerichtet hat. Zwar heimst Nepomnjaschtschi im Gegenzug den weißen Bauern h4 mit Schach ein. Aber ohne den lähmenden Effekt, den der a-Freibauer auf das weiße Spiel ausübte, ist Carlsen nun nur noch wenige Züge davon entfernt, seine Kräfte optimal zu koordinieren und die schwarzen Isolanis auf f7, f6 und h5 unter Feuer zu nehmen.

Geometrische Feinheiten

So schnell aber gibt sich Nepomnjaschtschi nicht geschlagen. Er verfügt ja immer noch über die stärkste Figur des Spiels: die Dame, die nun in verschiedenste Richtungen eilt, Haken schlägt und alles versucht, um die noch nicht optimal postierten weißen Figuren an der Aktivierung zu hindern.

Nach der zweiten Zweitkontrolle im 60. Zug sieht es so aus, als wäre Nepos Abwehrschlacht Erfolg beschieden. Er hat dem Weltmeister die Schwächung f2-f3-f4 abgerungen, Carlsens König ist nun auf der zweiten Reihe ebenso wie auf der langen Diagonale anfällig für die weiterhin wütende Attacken reitende schwarze Dame. Nur ist beiden Spielern kaum mehr Bedenkzeit verblieben. Die nach dem 60. Zug addierten 15 Extraminuten sind in einer taktisch so komplexen Stellung rasch verbraucht. Und die nach jedem Zug addierten 30 Bonussekunden verhindern zwar den unmittelbaren Verlust durch Zeitüberschreitung, reichen aber nicht aus, um tiefer in die geometrischen Feinheiten der Position einzudringen.

Gemeine Fragen

Magnus Carlsen ist jetzt, man sieht es ihm an, in seinem Element. Der Weltmeister weiß, dass dies die bisher beste Chance des Matches auf einen vollen Punkt für ihn ist. Auch wenn die Position objektiv Remis sein muss, ist sie für Schwarz mit wenig Bedenkzeit ungeheuer schwer zu verteidigen. In den folgenden 20 Zügen tut Carlsen nichts anderes, als seinem Gegner mit jedem Zug neue gemeine Fragen zu stellen, von denen jede für sich genommen nicht zu schwierig ist. Nur darf der Schwarze sich keine einzige falsche Antwort erlauben, während seine Uhr erbarmungslos heruntertickt.

Pressekonferenz nach der Partie.
FIDE chess

Im 80. Zug dann der Durchbruch: Nepomnjaschtschi hat übersehen, dass Carlsen seinen Turm auf f7 in die schwarze Königsstellung krachen lassen und danach den auf a7 postierten Läufer mit Schach abholen kann. Zwar ist die resultierende Position objektiv – das heißt, bei beiderseits perfektem Spiel – wohl immer noch Remis. Aber weil Menschen keine Computer sind und Carlsen nun über zwei einander deckende Freibauern verfügt, sieht die Lage für den Herausforderer zunehmend unhaltbar aus.

Die allerlängste Partie

Noch einmal bäumt Nepo sich auf. Er hat nun nur noch seine Dame, um Carlsens Monarchen zu belästigen und Weiß daran zu hindern, einen der beiden verbliebenen Bauern zum Umwandlungsfeld auf der achten Reihe zu eskortieren. Der Schwarze gibt aus allen Richtungen Schach: von vorne, von hinten, von der Seite, diagonal. Carlsen weicht aus, schiebt einmal den Turm, dann wieder den Springer dazwischen, mit dem Vorrücken der Bauern lässt er sich noch Zeit. Erst als er nach 128 Zügen die optimale Aufstellung von Turm, Springer und König erreicht hat, zieht Carlsen seinen e-Bauern endlich in die gegnerische Bretthälfte: 129. e5!

Die Partie ist zu diesem Zeitpunkt bereits die an Zügen längste der 136-jährigen WM-Geschichte. Bis dahin hielt ein Endspiel aus dem WM-Kampf Anatoli Karpow gegen Viktor Kortschnoi 1978 in Baguio City diesen Rekord, Carlsen und Nepomnjaschtschi haben ihn hier und heute übertroffen. Und nur noch sieben Steine stehen inzwischen auf dem Brett. Sieben Steine: Das ist exakt die Obergrenze, bis zu der seit 2012 alle regelkonformen Schachpositionen in den Lomonosov-Tablebases der Universität Moskau verzeichnet sind, versehen mit einem klaren Urteil: Schwarz gewinnt, Weiß gewinnt oder Remis. Natürlich haben die Spieler keinen Zugang zu dieser Information, wohl aber die Kiebitze in aller Welt.

Der letzte Fehler

Und so wissen die Zuschauer bald, dass Jan Nepomnjaschtschi erst mit seinem 130. Zug De6? den objektiv entscheidenden Fehler begeht. Die nimmermüde Dame schafft es von hier aus nicht mehr hinter den weißen König, den sie so nicht am Vorrücken im Verein mit Springer und Turm hindern kann. Auch die weißen Bauern marschieren nun. Nach 136. Sg7 gibt Nepomnjaschtschi auf, bevor Carlsens e-Bauern die letzte Reihe erreicht. Der Weltmeister gewinnt damit nicht nur die längste, sondern auch eine der packendsten WM-Partien der Schachgeschichte und geht in diesem Match mit 3,5:2,5 in Führung.

Der größte Sieger des Abends ist aber das klassische Schach. Nur bei einer WM mit langer Bedenkzeit ist ein so epochaler Kampf möglich, der die Spieler an und über ihre Belastungsgrenzen treibt. Nur so können Partien wie die heutige geschaffen werden, die für Jahrzehnte in Erinnerung bleiben wird.

Der historischen Leistung in Partie sechs zum Trotz geht es bereits am Samstagnachmittag mit Partie sieben weiter. Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi führt dann die weißen Figuren. (Anatol Vitouch, 3.12.2021)