Volkan Üces Film "All-In" gibt einen Einblick in den harten Alltag der Hotellerieangestellten an der türkischen Riviera.

This Human World

Die Fieberkurve der Pandemie hat dem Wiener Filmfestival This Human World besonders hart zugesetzt. Nachdem man im Dezember 2020 auf eine Onlineausgabe ausweichen musste, ging die Leitung dieses Jahr noch bis vor kurzem von einer Rückkehr in vier Kinos aus – plus eigenes Onlineangebot, da man dafür viel positives Feedback bekommen hatte.

Noch vor Verkündung des Lockdowns hat sie jedoch selbst die Notbremse gezogen und ist erneut auf eine virtuelle Ausgabe umgestiegen. Mit einem Drittel des Programms, in dem die Auseinandersetzung mit Menschenrechten im Mittelpunkt steht, ist die Auswahl eingeschränkter als im Vorjahr, sagt Michael Schmied vom dreiköpfigen Führungsteam auf STANDARD-Nachfrage.

"Wir mussten uns leider vom Großteil unserer kuratorischen Arbeit verabschieden." Entsprechend frustriert sei man über die "Planungsunmöglichkeit", die auf mangelhafte Kommunikation und fehlende Maßnahmen der Politik zurückzuführen ist. "Trotzdem hoffen wir, auch in diesem Lockdown einen Raum für Film, Kultur und kritische Auseinandersetzung zu eröffnen", sagt Schmied. Von heute, Montag, bis zum 12. Dezember liefert man täglich neue Filme, die dann jeweils 48 Stunden lang streambar sind, auch Festivalpässe sind im Angebot. Damit ein wenig Festivalstimmung aufkommt, wurden Gespräche mit Regisseuren aufgezeichnet, auch Live-Diskussionen finden im Anschluss an Screenings statt.

Dänischer Oscar-Kandidat

Mit Jonas Poher Rasmussens Flee, dem dänischen Oscar-Kandidaten, macht ein ungewöhnlicher Animationsfilm den Beginn, er konnte schon mehrere Preise gewinnen. Der Regisseur hat die Fluchtgeschichte eines alten Schulfreundes dramatisiert, der Mitte der 1980er-Jahre mit seiner Familie von Afghanistan nach Moskau und schließlich alleine nach Dänemark gekommen ist. Erst heute vermag Amin, inzwischen ein erfolgreicher Akademiker, über diese traumatische Zeit offen zu sprechen; auch weil er sich lange als Waise ausgeben musste, um seinen Asylstatus nicht zu verlieren.

In die Animationen, die seine Erfahrungen bildlich verdichten und trotzdem im Dokumentarischen verankert bleiben, wird auch die Suche nach seiner sexuellen Identität eingebunden. Wenn Amin als Bub für den Actionhelden Jean-Claude Van Damme schwärmt, sieht ihm dieser von einem Poster über seinem Bett herausfordernd entgegen. Erst später wurde ihm bewusst, dass seine Faszination das Ausmaß gängigen Fantums überstieg.

Flee ist nicht der einzige Film im Programm, der sich mit Migration und dem Zusammenprall von Identitäten befasst. In Radiograph of a Family rekapituliert die Iranerin Firouzeh Khosrovani die Geschichte ihrer Eltern, in der sich der Konflikt von säkularen und islamisch-ideologischen Positionen auf die private Ebene verlagert, und greift dafür auf das eigene Bildarchiv der Familie zurück.

Shadow Game von Eefje Blankevoort und Els van Driel zeigt die Fluchtaktivitäten unbegleiteter Minderjähriger aus Erste-Person-Perspektive, denn das Material des Films entstammt deren Handys, mit denen sie "spielerisch" ihre Routen begleitet haben.

Dienstleistungsproletariat

Klassischer im Zugang ist Volkan Üces All-In, er liefert dafür einen ungewöhnlichen Einblick in ein Resort an der türkischen Riviera. Der Blick ist auf zwei junge Saisonarbeiter ausgerichtet, die sich dort in der Küche respektive als Bademeister verdingen und sich gegenüber den Hotelgästen im besten Fall unauffällig verhalten sollen.

Üce porträtiert diesen Dienstleistungssektor wie eine Welt innerhalb einer anderen, zwischen denen immer mehr unsichtbare Grenzen aufscheinen. Hakan, der sich von seinem Job erhoffte, soziale Ängste zu kurieren, wirkt am Ende der Saison noch viel niedergeschlagener als zu Beginn. (Dominik Kamalzadeh, 7.12.2021)