Hartmut Rosa denkt die Welt in Resonanzbeziehungen: Wo Dialog statt Monolog herrscht, gebe es Erfüllung.

Jürgen Bauer

Hartmut Rosa geht gerne zu Fuß. Und er hält seine Vorträge nach wie vor am liebsten physisch anwesend. Das Gastspiel des deutschen Soziologen im Mak, das am 9. Dezember stattgefunden hätte, musste wegen des Lockdowns ins Frühjahr 2022 verschoben werden. Sein Theoriegebäude um die Begriffe "Beschleunigung", "Resonanz" und "(Un)verfügbarkeit" wird der Verschiebung standhalten.

STANDARD: Zentrales Wesensmerkmal der Moderne ist für Sie die fortschreitende Beschleunigung. In der Pandemie erleben wir beides: Vollbremsungen im Lockdown und einen beispiellosen Impfwettlauf. Was macht das mit uns?

Rosa: Was mir auffällt, ist, dass wir die physische Entschleunigung während des Lockdowns mit digitaler Beschleunigung kompensieren. Es fallen dadurch viele Umwege weg. Wenn ich meinen Vortrag in Wien jetzt digital halten würde, wäre das natürlich praktisch, weil es Zeit spart. Der Kulturphilosoph Hans Blumenberg hat aber gesagt: Kultur entsteht beim Gehen von Umwegen. Erst das Irritierende und Unvorhergesehene lässt uns mit der Welt in Verbindung treten.

STANDARD: Sie kritisieren, dass der Beschleunigungsimperativ Burnout und Depression befördert. Andererseits heißt Beschleunigung auch Fortschritt: Die Entwicklung eines Impfstoffs hätte früher Jahre gedauert, jetzt geht es binnen Monaten.

Rosa: Ich bestreite nicht, dass durch Beschleunigung auch Fortschritt stattfindet. Aber die heutige kapitalistische Gesellschaft bedarf stetiger Beschleunigung, um sich überhaupt in ihrer Struktur zu erhalten, also um stehen zu bleiben. Lange hatten wir gehofft, dass durch kapitalistisches Wachstum Armut beseitigt wird. Die Idee war auch: Je mehr wir über die Welt wissen, desto mehr Freiheit und Sicherheit gewinnen wir. Jetzt wissen wir immer mehr darüber, wie Nahrungsmittel auf unseren Körper wirken, sind aber paradoxerweise immer mehr verunsichert, was wir überhaupt essen sollen. Der beste Indikator für das Scheitern des Wachstumsversprechens ist, dass bis zum Jahr 2000 Eltern erfüllt waren von dem Leitmotiv, dass "die Kinder es einmal besser haben sollen". Heute sagen sich Eltern in den westlichen Industriestaaten: "Wir müssen alles dafür tun, damit es den Kindern nicht schlechter gehen wird."

STANDARD: Politisch befürworten Sie das bedingungslose Grundeinkommen, um dem Beschleunigungsdruck der Arbeitswelt zu entkommen. Das einfachste Gegenargument ist: Wer soll dann noch arbeiten wollen?

Rosa: Paradoxerweise vertreten doch gerade diejenigen, die diese Befürchtung hegen, am lautesten die Auffassung, der Mensch wolle immer mehr. Mercedes und Weltreise würde es weiterhin nur durch Arbeit geben. Grundeinkommen ist kein Sozialismus. Ich glaube daher nicht, dass dann niemand mehr arbeiten will. Durch Arbeit tritt der moderne Mensch in eine Resonanzbeziehung mit der Gesellschaft, er erhält das Gefühl, dass er etwas beiträgt zum Gelingen des Ganzen. Im Lohn liegt Anerkennung. Von Sozialhilfe leben heißt, dass diese Verbindung getrennt wird – der soziale Tod. Grundeinkommen hingegen würde einem den Platz in der Gesellschaft sichern, auch wenn man gerade keine Arbeit hat. Und die Anerkennungsstrukturen werden sich nicht ändern. Das Sozialprestige einer Ärztin wäre weiterhin hoch.

STANDARD: Sie würde dann nur möglicherweise nicht mehr 100 Überstunden auf der Intensivstation machen.

Rosa: Das ist höchstwahrscheinlich richtig, und gerade das könnte die Gesellschaft zum Guten verändern: Wir würden für das, was für uns wirklich wichtig ist, mehr und für anderes weniger bezahlen. Arbeitszeitverkürzung war ja von Anfang an das große Versprechen, das mit technischem Fortschritt einherging. Aber in den letzten Jahren hat sich allenfalls noch die bezahlte Arbeitszeit verkürzt – was durch oft unbezahlte oder schlecht bezahlte Überstunden ausgeglichen werden musste. Die wurden häufig gar nicht des Geldes wegen geleistet, sondern deshalb – etwa in der Pflege – weil die Arbeitenden die von ihnen Abhängigen nicht hängen lassen wollten.

STANDARD: Sie stellen weiters fest, dass der moderne Mensch unablässig versucht, seine Reichweite zu steigern, die Welt verfügbar zu machen. Alles Weltwissen, alle Lieder, Filme, Bilder, tragen wir per Smartphone am Leib. War das nicht der Traum jedes Bildungsbürgers? Das faustische Ideal?

Rosa: Aber es geht ja schon bei Faust schief. Goethe war da eigentlich sehr prophetisch. Wir haben ein aggressives Grundverhältnis zur Welt. Jeder blinde Fleck muss sofort und mit allen Mitteln verfügbar gemacht werden. Diese Art der Aneignung erfüllt uns aber nicht. Mein Lieblingsbeispiel sind die Streamingplattformen: In der analogen Welt hat man stundenlang in Plattenläden nach der einen Schallplatte gesucht, hat sie dann wie einen Schatz nach Hause getragen, gehütet und gesammelt. Heute haben wir 100 Millionen Musiktitel gratis auf Spotify abrufbereit. Diese permanente Verfügbarkeit und Überforderung führt nun eher dazu, dass uns die Musik gleichgültig wird. Die Menschen hören Playlists ohne zu wissen, was und wen sie da gerade hören. Musik wird im eigenen Leben zu einem substanzlosen Stimmungsaufheller. Das wiederum war nicht das bildungsbürgerliche Ideal.

STANDARD: Kehrt deswegen in einer Nische die Schallplatte zurück?

Rosa: Die Rückkehr der Schallplatte ist einerseits grotesk, weil wir da Musealisierung betreiben und das Sammeln nicht mehr dasselbe ist wie zuvor. Aber dieses Phänomen zeigt auch, dass uns durch die Digitalisierung etwas verloren gegangen ist. Der Smartphonebildschirm wird für uns zu einem sehr eingeschränkten Monokanal zur Welt, wir streichen über seine glatte, konturlose Oberfläche, und immer mit gesenktem Blick. Es gibt eine Verarmung in unserer körperlichen und damit auch psychischen Weltbeziehung.

"Es gibt eine Verarmung in unserer körperlichen und damit auch psychischen Weltbeziehung."

STANDARD: Wenn wir das Smartphone wegstecken, akzeptieren wir in dem Moment Unverfügbarkeit. Gerade das connectet uns zur Welt?

Rosa: Mein Lieblingsbeispiel ist Schnee. Er ist uns in unseren Breitengraden gut bekannt und teilweise auch verfügbar, aber eben nie ganz, weil er auch schmilzt. Gerade deswegen können wir zu ihm eine so starke Resonanzbeziehung aufbauen. Die Schneekanone und die "Schneegarantie" hingegen entsprechen wieder nur unseren aggressiven Versuchen, ihn uns anzueignen, in unsere Gewalt zu bringen. In die Zeit davor können wir aber auch nicht mehr zurück. Also glaube ich, dass selbst das Wegstecken des Smartphones wenig ändert.

STANDARD: Unverfügbar ist für uns bislang auch das Ende der Pandemie oder der ungeklärte Ursprung des Virus. Wie sollen wir damit umgehen?

Rosa: Ich spreche bei der Pandemie, der Klimakrise oder der Atomenergie von der Rückkehr der Unverfügbarkeit als Monster. Das ist schlechte Unverfügbarkeit, zu der wir kein Resonanzverhältnis aufbauen können wie zum Schnee. Wir versuchen, es zu beherrschen, aber es gelingt uns nie vollends. Es sind Dinge, die uns daran erinnern, dass wir nicht alles kontrollieren können.

STANDARD: Könnte es aber sein, dass das Virus ein neues Resonanzverhältnis zur Natur an sich befördert?

Rosa: Das ist bestimmt so. Vor der Pandemie hatte man allerorts den Städteboom erlebt, und jetzt trieb es die Leute in die ländliche Natur hinaus. Menschen haben die Natur in ihrer Nachbarschaft erkundet und wieder einmal erfahren, dass man es da mit einem eigensinnigen, lebendigen Gegenüber zu tun hat. Vielleicht löst das etwas aus im Blick auf eine nachhaltigere Lebensform.

STANDARD: Und was ist mit physischer Nähe zu Mitmenschen? Wird das Nachholen dessen zu besonders intensiven Resonanzen führen?

Rosa: Die Einsamkeitsforschung hat gezeigt, dass der Wunsch nach physischer Nähe sogar abnimmt, je weniger man diese hat. Das passiert bei vielen im Lockdown. Aber wenn wir uns dann doch überwinden, kommt es sehr häufig doch zu sehr intensiven Erfahrungen. Es wäre sehr wichtig, dass all das zurückkehrt. Denn die physische Distanz nährt nur die weitverbreitete Grundhaltung des Aufeinander-wütend-Seins. Dann wird der andere zur permanenten Bedrohung. (INTERVIEW: Stefan Weiss, 6.12.2021)