Magnus Carlsen (li) beim strapaziösen aber letztlich sehr erfolgreichen Nachdenken.

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Dubai – Nach Partie sieben konnte man es vermuten, jetzt scheint es Gewissheit: Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi hat die fast achtstündige Marathon-Niederlage in Runde sechs nicht ganz so leicht weggesteckt, wie er Presse und Publikum glauben machen wollte. Anders jedenfalls ist der Verlauf der am Sonntag gespielten achten Partie kaum erklärlich.

Zunächst ist da heute wieder die Russische Verteidigung, die schon in Nepos zweiter Schwarzpartie in Runde vier zu sehen war. Damals hatte Magnus Carlsen in einem recht forcierten Abspiel der alten Hauptvariante nicht viel herausholen können. Die Sache mit Russisch aber ist die: Es gibt eine Unzahl von Varianten und Subvarianten, mit denen Weiß dem Schwarzspieler praktische Probleme bereiten kann. Großer objektiver Vorteil wird dabei gegen einen präzise vorbereiteten Gegner selten herausschauen. Aber Spielstellungen mit leichter weißer Initiative, die Schwarz erst durch geduldiges Spiel ausgleichen muss, die gibt es im Russischen wie Nadelbäume an der Ostsee.

Der österreichische Schachgroßmeister Markus Ragger analysiert Partie 8.
Österreichischer Schachbund

Und das ist wohl auch der Grund, warum Magnus Carlsen trotz seines Erfolgs mit 1. d4 in Partie sechs zu 1. e4 zurückkehrte: Sein Sieg am Freitag hatte mit der Eröffnung nur insofern zu tun, als Nepomnjaschtschi nach kurzer Zeit bereits so gut stand, dass er mit den schwarzen Steinen selbst die Initiative ergreifen wollte – und damit am Ende Schiffbruch erlitt.

Symmetrie währt nicht ewig

In Partie acht möchte der Champion aber sicher endlich einmal etwas wie Eröffnungsvorteil aufs Brett bekommen. Statt 3. Sxe5, wie in Partie vier, wählt er deshalb mit 3. d4 eine andere Hauptvariante. Die eigentliche Überraschung folgt erst in Zug sieben. Da entscheidet sich Carlsen nämlich dafür, nach dem ersten auch das zweite Springerpaar vom Brett verschwinden zu lassen. Was daraus entsteht, ist eine höchst ästhetische, absolut symmetrische Position, in der kurioserweise alle acht Felder der d-Linie besetzt sind. Aber kann Weiß hier trotz Symmetrie mit seinem Anzugsvorteil auf Gewinn spielen? Immerhin hat Nepo mit dieser Nebenlinie offenbar nicht gerechnet und versinkt bald in Nachdenklichkeit.

So richtig interessant wird es dann bereits im neunten Zug. Nepo sollte nun, da sind sich die kompetenten Beobachter einig, den Pfad der Symmetrie verlassen, weil nach kurzer schwarzer Rochade 10. Dh5! dem Weißen einigen Vorteil verspräche. Den vom Herausforderer gewählten Zug hat allerdings niemand auf der Rechnung: Mit dem Randbauernaufzug 9...h5!? belässt Nepomnjaschtschi nicht nur seinen König im Zentrum, sondern deutet auch aggressive Intentionen gegen Carlsens rochierten Monarchen an.

Müder Champion

Jetzt muss sich Carlsen zum ersten Mal in dieser Partie hineinknien, denn damit konnte er in seiner Vorbereitung nicht rechnen. Der Norweger denkt und denkt, aber er findet einfach keine Variante, mit der er den scheinbar antipositionellen Zug seines Gegners bestrafen könnte.

Nach einer halben Ewigkeit spielt der Weltmeister etwas, das ebenso niemand erwartet hat wie den vorherigen Zug seines Kontrahenten. Durch 10. De1+ (statt des viel näher liegenden Te1+) gibt der Weiße seinem Gegner die Chance, die Damen mittels 10...De7 vom Brett zu bekommen. Der Zug ist eine Art stilles Remisangebot, denn nach den Damen wären auf der offenen e-Linie bald die Türme dran. Und was dann bei symmetrischer Bauernstruktur noch übrigbleibt, dürfte keinem der beiden Spieler ernsthafte Gewinnversuche gestatten.

Später, in der Pressekonferenz, wird Magnus Carlsen erklären, dass er sich müde gefühlt habe und einfach keine komplizierten Varianten mehr habe berechnen können. So habe er angesichts seiner Führung beschlossen, erst einmal die Damen zu tauschen und ein Weißremis billigend in Kauf zu nehmen.

Die Dame lebt

Die Damen aber, sie werden an diesem Sonntag überhaupt nicht getauscht werden. Jan Nepomnjaschtschi, der Herausforderer, der im Gegensatz zum Weltmeister auch nachher noch um die Burg nicht zugeben will, von den Geschehnissen der letzten Tage ermüdet zu sein, lässt den Tausch nämlich nicht zu. Mit 10...Kf8 räumt er Carlsen dafür die Möglichkeit ein, die schwarzfeldrigen Läufer abzutauschen, was die dauerhafte leichte Initiative begründet, die dem Herausforderer nun lange zu schaffen machen wird.

Warum lässt Nepo sich darauf ein? Er wird die Frage später selbst nicht schlüssig beantworten können. Der Weltmeister findet sich nach Nepos exaltiertem Königszug jedenfalls schnell damit ab, dass er an diesem Tag doch noch ein paar Varianten berechnen muss. Und er tut das, was Wunder, gar nicht übel. Mit der feinen Sequenz 19. h3! und 20. c4! setzt Carlsen den Schwarzen unangenehmem Druck aus, den dieser nun eine Weile erdulden sollte, weil er sich nicht unmittelbar aufheben lässt.

Nur: Jan Nepomnjaschtschi denkt gar nicht daran, sich geduldig zu zeigen. Ans Brett kommt der Russe in dieser Partiephase fast nur, um die Züge auszuführen, die er sich vorher in seinem Ruheraum mittels Beobachtung der Position am Bildschirm zurechtgelegt hat. Er spielt geradezu provokativ schnell, als wollte er Carlsen, der am Brett den Kopf in den Händen vergräbt, damit signalisieren, dass einer wie er solche kleinen Stellungsprobleme aus dem Handgelenk löst.

Es ist diese Art von Sorglosigkeit, die schon lange als psychologische Schwäche des Herausforderers gebrandmarkt wurde und die er sich offenbar auch in der Vorbereitung auf Dubai nicht abgewöhnen konnte. Mit 21...b5?? schießt Nepo jedenfalls einen kapitalen Bock, der ihn nach Carlsens Damenschach auf a3 einen ganzen Bauern kostet. Jetzt wäre es Zeit für den Herausforderer, das Spieltempo zu reduzieren, den Ernst der Lage anzuerkennen und nach der einen präzisen Zugfolge zu suchen, die ihm die besten praktischen Überlebenschancen gewährt.

Jan Nepomnjaschtschi tut so ziemlich das Gegenteil. Mit 23...Dd8? knallt er noch einen schlechten Zug heraus, der es dem weiter behutsam vorgehenden Weltmeister letztlich ermöglicht, einen zweiten Bauern zu gewinnen und die fette Beute in ein eindeutig gewonnenes Damenendspiel mitzunehmen. Wenn Nepo diese Damen doch nur getauscht hätte! Jetzt ist es dafür zu spät.

Zweckoptimismus

Als die Zeitkontrolle in Zug 40 erreicht ist, bekommen beide noch einmal eine Stunde Bedenkzeit addiert. Das gestattet es dem Weltmeister, ein Endspiel, das er wohl auch in einer Blitzpartie problemlos gewinnen würde, in aller Ruhe und allen Nuancen zu durchdenken, bevor er sich für eine der verschiedenen Gewinnvarianten entscheidet.

Nach 46 Zügen streckt Jan Nepomnjaschtschi die Waffen, er liegt nun 3:5 zurück. Was den Herausforderer allerdings nicht daran hindert, in der Pressekonferenz weiterhin Optimismus zu versprühen. "Natürlich wäre es besser, es stünde noch unentschieden", sagt Nepo so locker, wie er heute seine Verlustzüge ausgeführt hat. So oder so müsse er eben Partien gewinnen, um dieses Match für sich zu entscheiden, meint der Russe, dessen Unerschütterlichkeit an diesem Tag doch etwas aufgesetzt wirkt.

So ist es paradoxerweise der Weltmeister, der nach zwei Siegen aus den letzten drei Partien Erschöpfung zu Protokoll gibt und sich auf den morgigen Ruhetag freut – während sein heute wie am Freitag unterlegener Gegner schon der kommenden Partie am Dienstag entgegenfiebert. (Anatol Vitouch, 5.12.2021)