Das Leben ist kein Ponyhof, kein Honiglecken und kein Krippenspiel. Es wird ständig von Scherereien aller Art gesäumt, und wenn man es halbwegs anständig über die Bühne bringt, hat man sich eine ordentliche Belohnung in der Transzendenz verdient. Dafür gibt's dann eine Sphäre namens Himmel, Paradies, Eden, Dschanna, Elysium, Walhalla oder Nirwana.

Maisacker in Raasdorf.
Foto: APA / ROLAND SCHLAGER

Wer sich für das Nirwana entscheidet, muss alles Anhaften ans Irdische hinter sich lassen (schwierig, wenn man gerade dabei ist, den Schaumwein für die Weihnachtsfeiertage einzukühlen). Dafür wird man mit einem Leben in leidbefreiter Ruhe und endloser Glückseligkeit entschädigt. Klingt super, ist aber leichter gesagt als getan. Oder, Korrektur: Das war leichter gesagt als getan. Denn in dieser Woche hat der Wiener Bürgermeister Ludwig nicht nur das wahre Nirwana, sondern auch einen kinderleichten Weg dorthin identifiziert, der keine große spirituelle Übung erfordert: Bei einer Pressekonferenz zum – temporär oder vielleicht auch für immer gekillten – Lobautunnel grantelte Ludwig, die von Ministerin Gewessler in Aussicht gestellte S1-Spange ab der Stadtstraße sei eine Pflanzerei, weil diese Straße in der Gemeinde Raasdorf, "im Nirwana", enden würde. Man wird dies nicht anders als so verstehen können: Das Nirwana hat sich jahrhundertelang als Raasdorf verkleidet verborgen, ehe sein wahres Wesen von Ludwig enthüllt wurde.

Religionshistorisch bedeutet dies einen Paradigmenwechsel erster Güte. Sinnsucher, die das Nirwana in Indien oder in Tibet aufspüren wollten, hätten nicht lange in die Weite schweifen müssen, ein paar läppische Kilometer über die Wiener Stadtgrenze hinaus hätten es getan. Das Nirwana liegt mitten in Niederösterreich, es hat 665 Einwohner, einen ÖVP-Langzeitbürgermeister und 13,2 Quadratkilometer Fläche, ist also ziemlich klein, mehr ein Nirwanerl als ein richtiges Nirwana.

Man kommt auch ganz leicht dorthin. Von der U2-Station Aspern Nord aus dauert die Zugfahrt fünf Minuten, ehe man den Bahnhof Raasdorf erreicht. Natürlich ist der Bahnsteig hell erleuchtet (!). Rechter Hand wird der Nirwana-Besucher stilvoll von einem Raiffeisen-Lagerhaus samt Speicherturm empfangen; auf einer grün gestrichenen Wandfläche grüßt ein mysteriöses Graffito ("Susi *82 Morci"). Was es im Nirwana sonst noch gibt? Viele Strabag-Container, ein Dutzend schwarz-gelber Poller vor der Bahnhofsunterführung, die Marchfelder Straße, eine große gelbe Zwiebel im Straßengraben, rührend in ihrer existenziellen Verlorenheit. Ja, an diesem lauen Dezemberabend liegt hier ein Hauch von endloser Glückseligkeit in der Luft. Und der Weg nach Raasdorf steht allen offen – selbst wenn er nicht durch einen Tunnel führt. (Christoph Winder, 7.12.2021)